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Mondsicht
Ein kalter Wind bläst Wolkenschleier
zwischen Erde und Vollmondin,
um sie dann wieder dann wieder wegzureißen.
Ein Land, das von allem, was wesentlich
ist, entblößt wurde,
liegt enthüllt in ihrem frostigen
Licht.
Trockenes Gras zischt; laut rasseln
die nackten Knochen der Bäume im Wind,
der wieder anhebt und einen raschelnden
Haufen abgefallener Blätter vor sich herbläst.
Die Bären suchen sich Höhlen
für den Winterschlaf;
Eichhörnchen verstecken die letzten
paar süßen Nüsse,
die von den Bäumen gefallen sind.
Durch den offenen Wald schreiten Hirsche
mit verzweigtem Geweih.
Dann suchen auch sie einen Unterschlupf.
Nur der Wind bleibt noch,
um den verschwundenen Sommer
unter der Klagemondin zu betrauern.
Die Göttin
spricht
Selket
Hoch ragen die
Überreste der Toten in ihren stolzen Urnen auf, aber nicht alle befinden
sich in Gräbern. Die Toten sind unter deinen Füßen. Sie
sind überall.
Du gehst auf den Knochen
deiner Vorfahren, sie hören deine Schritte, sie zählen jeden
Schlag deines Herzens so wie ich auch. Ich bin Selket, die Hüterin
der Toten. Meine goldenen Flügel entfalten einen Frieden, der ewig
ist. Meine ausgestreckten goldenen Hände beschützen die Träume
der Träumenden. Du sahst mich in kurzen, heimlichen Momenten, als
du an den Tod dachtest. Während du an einem Friedhof vorbeigingst
oder jemanden, den du geliebt hattest, zu Grabe trugst, war ich da.
Du sahst mich, als die
Liebe in deinem Herzen starb, oder du ein Gefühl ohne jegliche Zukunft
töten mußtest. Du sahst mich, als du die Wahl treffen mußtest,
Leben zu geben oder es zu versagen. Da war ich auch da. Ich bin immer da
hinter meinem Schleier, in meiner vollen Macht, teil meinen Segen aus oder
meinen tödlichen Streich.
Ich bin die Kraft, die
das Leben welken läßt, nicht schnell und gnädig, sondern
langsam und schmerzlich.
Ich entziehe den Lebenden
die Lebenskraft, wenn sie mich erzürnen.
Ich durchschreite den
Schleier und nehme mir, was mein ist.
Ich fordere Achtung für
die Toten. Ich verlange, daß die Namen der Toten erinnert und gepriesen
werden. Ich verschaffe den Toten das Recht auf Denkmäler und Andachten.
Ich hütete das Grab
des jungen Tutenchamun. Ich versteckte das königliche Grab vor Räubern
und Wissenschaftlern, was fast dasselbe ist.
Jahrhundertelang wirkte
ich meine Magie, bis ich es nicht mehr länger vermochte und dann verfluchte
ich die, die den Frieden störten, ich vernichtete die Schürfer,
schlug die, die die Expedition unterstützt hatten, über einen
halben Kontinent hinweg mit Krankheit.
All das vollbrachte
Selket. Ich bin die Skorpiongöttin.
Ich trage den Skorpion
in meiner Krone und ich befehlige die Skorpione in der Wüste. Sie
sind meine Haustiere.
Grimmige Krieger, tödliche
Gegner, sonnendurchtränkte Kreaturen - sie sind ich.
Wenn du stirbst,
wirst du mich sehen.
Ich bin die goldene,
ausgestreckte Hand, die dir einen Führer senden wird, den du erkennen
kannst. Dieser wird dich zu meinen Kammern geleiten und dich in feine seidene
Roben aus purem Weiß hüllen, der Farbe der Toten.
Ich bin es, die
deinen Namen auf die Liste derer setzen wird, die geschützt werden
sollen, die dich fragt, was du brauchst und dann deine Bande zur Welt der
Lebenden durchtrennt. Bist du in meinem Reich, wird nichts mehr dich schmerzen.
Nicht die Geliebten, die dich verließen, oder die Geliebten, die
niemals kamen, die Ehemänner, die dich schlugen oder nie für
dich da waren. Die undankbaren Kinder, die dich ausnutzten oder sich verirrten,
sogar dein eigenes Übel, die Schuld und der Schmerz nichts davon wird
dir je wieder weh tun. Deine Armut, deine Unwissenheit, deine Sklaverei
und deine Leiden nichts soll von ihnen übrig bleiben. Ich lösche
alle Erinnerungen aus. Du wirst du selbst sein rein und erneuert. Ich ermögliche
dir, deine Stärke zurückzugewinnen, dein Selbstwertgefühl,
deine Selbstliebe. Nie gekannten Frieden wirst du in meiner Skorpionzuneigung
finden, Möglichkeiten, von denen du nicht einmal zu träumen gewagt
hättest, Möglichkeiten zur Wiedergeburt und zur Reinkarnation.
Auch dies bin ich.
Ich bin das Tor des Lebens
und des Todes.
Du wirst mir
sagen, wie lange du im Schutz meiner Schwingen verweilen willst, wie lange
du meinen ewigen Frieden zu genießen wünschst, ohne die Schmerzen
des Lebens.
Du wirst mir sagen, wie
lange du bedingungslos geliebt werden willst.
Wenn du sagst, daß
du bereit bist zurückzukehren, bin ich diejenige, die die Tore weit
öffnen wird. Auf dem Rücken der Nordwinde werde ich dich in die
Welt entlassen.
Sie werden dich zu deiner
Bestimmung außerhalb meines Reiches führen, wo ich nicht mehr
Königin bin. Dort wirst du mich nicht mehr sehen oder fühlen,
denn ich werde jegliche deiner Erinnerungen an mich streichen.
Du wirst den Frieden
und die Seligkeit, die ich dir gegeben habe, vergessen, damit du dich nicht
mehr danach sehnst, bei mir zu sein. Wenn ich dich zum Lebewohl küsse,
wirst du beginnen, mich zu fürchten, du wirst dich nur dunkel daran
erinnern, daß ich jemals existiert habe, ich, Selket, die Skorpiongöttin
unter deinen Füßen, immer in deiner Zukunft, niemals in deinem
Herzen.
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