... aus dem Buch "Die Wolfsfrau" von Clarissa Pinkola Estes
Körperfreuden  

Wildes Fleisch  
Ich habe oft mit Begeisterung zugeschaut, wie Wölfe ihre Körper aneinander reiben und sich gegenseitig rempeln, während sie laufen und spielen. Ah, die selbstverständliche Anmut, mit der die tolpatschigen Jungen herumtollen, mit der hochschwangere Wolfsmütter sich auf die Seite fallen lassen, mit der ein alter Grauer oder ein Halbstarker mit einem schlecht verheilten, bei irgendeinem Abenteuer gebrochenen Bein dahergetrottet kommt.  

Sie alle, die Ausgemergelten wie die prachtvoll Fetten, die Hochbeinigen wie die Schiefnasigen, sind auf selbstverständliche und völlig unreflektierte Weise schön. Sie sind ganz einfach, wie sie sind, ohne Urteil oder Scham, und versuchen nie, etwas anderes vorzutäuschen.  
Hoch im Norden habe ich einmal eine alte Wölfin beobachtet, die auf drei Beinen hinkte, aber sie war die einzige im Rudel, die sich durch eine schmale Felsspalte zwängen und die Blaubeeren dahinter erreichen konnte. Einmal sah ich einen grauen Wolf zum Sprung ansetzen und dann in einem solchen Satz durch die Luft fliegen, daß ein silbriger Streifen noch eine Sekunde später in der Luft hing.  

Ich erinnere mich an eine junge Mutter mit noch hängendem Bauchfell, die mit der Zierlichkeit einer Tänzerin durch einen moosigen Tümpel watete.  

Keinem Wolf würde es je einfallen, sich mit einem bestimmten Schönheitsideal zu vergleichen und dann winselnd auf dem Bauche zu kriechen, weil sein Schwanz vielleicht nicht ganz so buschig ist, wie das Ideal verlangt. Anders bei uns, den Menschenfrauen.  

Wir lassen zu, daß man öffentlich über uns diskutiert, als gäbe es nur ein einziges, relativ fest umrissenes Ideal körperlicher und charakterlicher Schönheit, das generell akzeptabel ist, wobei sich oft noch ein moralisierender Unterton einschleicht, als wäre jede Abweichung ein persönliches und moralisches Versagen.  

Wenn Frauen sich von außen ein vorschreiben bestimmtes Temperament, Benehmen und Aussehen lassen, werden sie befangen und verlieren seelisch ihre Freiheit.  

Die instinktive Psyche versteht den Körper als ein Netzwerk der Kommunikation, als einen Botschafter mit zahllosen Informationssystemen auf nervlicher, respiratorischer, muskulöser, organischer, autonomer, aber auch emotionaler und intuitiver Ebene.  

Vom Standpunkt der Geist-Seele betrachtet, ist der Körper ein Vehikel, ein hochkomplizierter, mit lebenden Sensoren ausgestatteter Raumanzug, in dem man sich fortbewegt. In Märchen wird der Körper tot als Sinneswerkzeug mit übersinnlichen Fähigkeiten dargestellt, denn dort hat der Körper nicht nur ein Paar Ohren, sondern zwei, eines für die Außenwelt, das andere für die Seelenwelt.  

Das gleiche gilt für die Augen und alle anderen Sinnesorgane. Ein Augenpaar sieht das Oberflächliche, während das andere in die Ferne oder nach innen blickt.  
Im Märchen stehen dem Körper unter anderem auch zwei Kräfte zur Verfügung:  

die der Muskeln und die der Seele. In manchen Systemen der Körperarbeit, wie zum Beispiel der Feldenkrais-Methode und der Ayurvedischen Medizin, werden dem Körper sechs Sinne zugeordnet, nicht fünf.  

Der Körper benutzt seine Haut und die tieferen Gewebeschichten wie ein Magnettonband, auf dem alles aufgezeichnet wird, was in ihm und rings um ihn her geschieht.  
Insofern ist der Körper für ausgebildete Diagnostiker, die seine Gravuren lesen können, wie der Rosettastein in dem alles Gewonnene und Verlorene, alle Hoffnungen, Verletzungen und Heilungen gespeichert werden.  

Der Körper wird als ein hochempfindliches Empfangsgerät betrachtet, welches unmittelbar und präzise auf jeden Einfluß reagiert und sogar eine gewisse Voraussicht an den Tag legt.  
Der Körper ist ein Lebewesen, das viele verschiedene Sprachen beherrscht.  

Er äußert sich durch seine Farbgebung, durch seine Temperatur, das jähe Zucken einer Erkenntnis, das Glühen der Liebe, das Ziehen oder Stechen von Schmerzen, die Hitze der Erregung, die Kälte seiner Ablehnung.  

Er spricht durch seinen konstanten kleinen Tanz, bei dem er mal schwankt, mal hüpft, mal zittert.  
Er kommuniziert durch das hüpfende Herz, das Sinken der Gefühle in die Magengrube, das Aufsteigen der Hoffnung bis zum Scheitel.  

Der Körper erinnert sich an alles.  

In seinen Knochen hausen Erinnerungen; in den Gelenken, selbst im kleinen Finger sitzt sein Gedächtnis und wird in den Zellen gespeichert. Wie ein mit Wasser gefüllter Schwamm verspritzt der Körper seine Erinnerungen in Form von Bildern und Gefühlen, sobald das Fleisch an irgendeiner Stelle berührt, gestreichelt, gezwickt oder massiert wird.  

Die Schönheit und den Wert des Körpers auf irgend etwas Geringeres als diese enorme Vielfalt zu reduzieren bedeutet, dem Körper die Weisheit und das Recht abzusprechen, jede ihm gefällige Form anzunehmen und seines Lebens froh zu werden. Die Wildnatur aller Geschöpfe ist grundsätzlich lebensfroh.  

Wenn man einen Körper bewohnt, der allgemein für häßlich oder mangelhaft gehalten wird, weil er dem momentanen Modetrend nicht in jeder Hinsicht entspricht, wird diese ekstatische Wildnatur verletzt.  

Frauen tun gut daran, sich gegen alle psychologischen und körperlichen Normen zu wehren, die sie von ihrer wilden Seele abschneiden können und sie verunglimpfen.  

Es ist völlig klar, daß die Instinktnatur von Frauen weitaus mehr Wert darauf legt, daß der Körper und Geist vital, reaktionsfähig und ausdauernd sind als nach außen hin akzeptabel. Damit werden die Schönheitsideale bestimmter Kulturkreise nicht für falsch erklärt, nein, damit wird den exklusiven Idealen ein umfassenderes Gesamtbild von Schönheit entgegengehalten, in dem alle Formen, Farben und Funktionen Platz haben.

 

Wolfsfrauen abonnieren. 
Powered by www.egroups.de