... aus dem Buch »Die Wolfsfrau« von Clarissa Pinkola Estes

La Mariposa, die Schmetterlingsfrau 

Um die Kräfte des Körpers noch etwas genauer und unter anderen Vorzeichen auszuleuchten, möchte ich die folgende wahre Geschichte erzählen. Seit Jahrzehnten bereisen Touristen und spirituelle Sucher aller Art die großartigen amerikanischen Wüstengebiete: Arizona, Cololorado und Neu-Mexiko, Grand Canyon und Monument Valley. Sie besuchen die verlassenen Felsenhöhlen und kultischen Einweihungsstätten der Indianer, kraxeln auf pittoresken Steilhängen herum, lassen Feldstecher über rotbraune Wüstenstriche schweifen, knipsen ein paar Filme voll und ziehen weiter, weiter, immer auf der Suche nach einem Erlebnis, so kommt es mir vor, das ihren Seelenhunger stillen könnte.

Der Hunger ist so alt wie die Menschheit, aber für manche geht es dabei auch um ein Bedürfnis, ihre geistigen Wurzeln zu finden, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu etwas älterem als den eigenen Großeltern zu entwickeln.

Viele Europäer und Amerikaner haben den Zugang zu ihren Vorfahren verloren oder ihn nie gehabt.

Viele hungern nach etwas, das sie mit der Weisheit der Ahnen verbinden könnte, und wenn sie es in der eigenen Familie nicht finden, suchen sie es bei den Nachkommen eines stolzen, traditionsbewußten Volkes. Seit Jahren finden sich Tausende von Touristen und Sucher deshalb bei den Puye-Cliffs ein, die sich auf einer der großen Bergebenen in Neu-Mexiko befinden, die Mesas genannt werden. Aus den umliegenden Staaten kommen die Nachfahren der alten Indianerstämme hierher zusammen, Navajos, Apachen, Hopis, Zunis, Lagunas, Tesuques und viele mehr, um einmal im Jahr bei den Puye-Cliffs ihre urtümlichen Stammestänze aufzuführen. Die Touristen und Sucher schauen zu, während die Schautänzer sich in federgeschmückte Adler, Rehe, Pinienbäume und Wölfe verwandeln und ihre Götter und Naturgeister beschwören.

Die meisten Zuschauer haben die Mythen ihrer Ahnen und die Namen ihrer eigenen alten Götter und Schutzgeister vergessen. Aber der Hunger nach Ersatz läßt sie die entlegenen Puye-Klippen erklimmen und den Indianern zusehen, die noch immer nicht vergessen haben.

Diese Stammestänze finden mitten im Sommer statt. Gegen Mittag hat sich ein gigantischer Blechhaufen von Autos und Lastwagen am Fuße der Klippen angesammelt, und das Publikum hockt schweißüberströmt in einem naturgemachten Backofen. Dennoch bleibt es sitzen und steht einen rasselnden Tanz und eine endlos lange Kostümwechselpause nach der anderen durch, denn es wartet auf etwas, das man offenbar nicht ohne gebührende Zumutungen zu Gesicht bekommt: das Wildeste vom Wilden, den Tanz von La Mariposa, der Schmetterlingsfrau.

Der Tanz der Schmetterlingsfrau ist der letzte von allen; die Sonne ist schon am Untergehen, da betritt ein runzeliger Indianer, behängt mit vierzig Pfund Türkisschmuck die Naturbühne und murmelt in ein Mikrofon aus den dreißiger Jahren: »Unser nächster Tanz ist der Schmetterlingstanz.«

Er schlurft davon, verschwindet in seinem Campingautound läßt die Zuschauer noch zwanzig Minuten warten — oder noch länger.

Als schon niemand mehr recht daran glaubt und das Publikum sich bereits mit anderen Dingen beschäftigt, erklingt der altehrwürdige Trommelrhythmus des Schmetterlingstanzes, und die Sänger geben ihr Äußerstes an stimmgewaltiger Geisterbeschwörung.

Wer den Tanz noch nie zuvor gesehen hat, ist sichtlich erschüttert, wenn die alte Maria Lujan im Schmetterlingskostüm auf die Bühne gehüpft kommt. Maria ist enorm korpulent und wirklich alt, sehr alt.

Ihre Flügel sind aus Pappmache, wie die von Engeln im Krippenspiel, sie schwenkt einen Fächer aus bunten Vogelfedern und hüpft bedeutungsvoll von einem Fuß auf den anderen.

Sie ist ein Schmetterling, der den Lahmen, Schwachen und Genesenden unter uns Kraft spenden könnte.

Sie ist ein Jumbo-Schmetterling.

Ihr ellenlanges graues Haar peitscht den Sand, wenn sie sich bückt und ihren Riesenhintern im Kreise schwenkt. Die Stammesgenossen schauen ihr andächtig zu, wie sie tanzt und singt: »Ich bin hier, hier, hier! Ich bin hier, hier, hier! Erwachet, ihr, ihr, ihr!«

Die Zuschauer wechseln befremdete Blicke, »das soll die Schmetterlingsfrau sein?«

Viele schütteln verwirrt und enttäuscht den Kopf. Sie wissen nicht, daß in der Geisterwelt alte, dicke Frauen Schmetterlinge sind, Wölfe Frauen und Bären Ehemänner.

Ja, es macht Sinn, daß die wilde Schmetterlingsfrau uralt ist und von enormer Leibesfülle; schließlich trägt sie die Unterwelt in einer Brust und die Naturkräfte in der anderen.

Ihr Rückgrat ist der Bogen der Erdkugel selbst; über ihrer linken Schulter geht die Sonne auf und über der rechten geht sie unter. Ihr Bauch birgt alle Wesen, die je geboren werden.

Die Schmetterlingsfrau symbolisiert feminine Fruchtbarkeit in Aktion.

Sie trägt den Blütenstaub von einem Ort zum anderen, um zu befruchten, genauso, wie die Seele den Geist durch nächtliche Träume befruchtet und Archetypen das alltägliche Menschenleben. Sie ist das Zentrum, das alle Gegensätze vereint, ein wenig von hier nimmt, um es dort hinzuzufügen.

So finden Transformationen statt, so wird das eine mit dem anderen gekreuzt.

Auf diese simple Weise ist der Schmetterling der menschlichen Seele befruchtend aktiv.

Durch die Schmetterlingsfrau wird uns erklärt, daß eine Transformation nicht nur Heiligen, Asketen, oder zutiefst gequälten Seelen vorbehalten bleibt. Das Selbst muß keine Berge versetzen, um sich zu transformieren.

Ein bißchen Umwandlung hier und dort genügt.

Ein paar Veränderungen an der richtigen Stelle bewirken große Dinge, denn die Befruchtungsenergie erspart uns das mühsame Berge-Verrücken. Die Schmetterlingsfrau in Gestalt von Maria Lujan befruchtet die Seelen auf der Erde, indem sie ihren Fächer mal hierhin, mal dorthin schwenkt und von einem Bein aufs andere hüpft, denn so verteilt sie den geistigen Blütenstaub und streut ihn auf sämtliche Zuschauer bei ihrem Tanz.

Damit sagt sie, daß es einfacher ist, als man gewöhnlich annimmt. Sie sagt, daß Geisteskräfte und Seelenenergien sich kreuzen und gegenseitig befruchten sollen.

Diese indianische Schmetterlingsfrau ist die Wilde Frau in Person. Und sie kann nur von einer alten Frau verkörpert werden, denn sie ist die Urseele, wie sie leibt und lebt.

Und sie muß breite Hüften und fette Schenkel haben, an denen viel Blütenstaub hängenbleibt.

Ihr graues Haar entbindet sie von dem Tabu gegen intime Berührungen.

Die Schmetterlingsfrau darf jeden anfassen, jeden streicheln, sich neben jedem Zuschauer niederlassen, ob alt, ob jung, Mann oder Frau, schick oder schäbig. Das ist ihr Privileg und ihre Aufgabe. Ihrem Körper wird gestattet, von einem zum anderen zu flattern und unterschiedliche Energien spielerisch zu kreuzen.

Der Körper ist wie die Erde selbst, eine Landschaft, ein Anwesen, das darunter leidet, zubetoniert, in Parzellen aufgeteilt, ausgeplündert zu werden. Eine Frau mit ausgeprägten Instinkten läßt sich nicht ohne weiteres auf Umgestaltungspläne ein, denn für sie geht es nicht in erster Linie um die Form, sondern um die Gefühle.

Wie fühlen sich die Brüste an? Erfüllen sie ihre naturgegebene Funktion? Fühlen sie? Dann sind es gute Brüste. Die Hüften von Frauen sind breiter gebaut als die von Männern, weil sie die Gebärmutter bergen, die Wiege des Lebens.

Hüften und Schenkel sind Portale, durch die tiefste Empfindungen strömen und auf denen der gesamte Überbau balanciert wird. Es gibt keine einzig und allein richtige Körperform. Es geht nicht um Größe, Umfang oder das Alter in Jahren, auch nicht darum, ob man zwei von diesem und jenem hat, denn manche haben es nicht.

Für die Instinktnatur geht es um das Seinsgefühl im Körper, um seine Verbundenheit mit dem Herzen, der Seele, der Urkraft. Ist der Körper seines Lebens froh, das ist die Frage. Kann er auf seine ureigene, unverwechselbare Art laufen, tanzen, sich hin und her wiegen? Alles andere ist unwichtig.

Als Kind wurde ich einmal bei einem Schulausflug in das Museum, für Völkerkunde in Chicago gebracht.

Dort sah ich die Skulpturen von Malvina Hoffman zum ersten Mal — Dutzende von lebensgroßen Statuen aus dunkler Bronze. Sie hatten die nackten Körper der Völker aus aller Welt porträtiert, und zwar mit der Vision einer Wilden Frau.

Da sah ich die sehnige Wade eines Jägers, die langen Brüste einer Mutter mit zwei erwachsenen Kindern, die spitzen Hügelchen auf der Brust einer Jungfrau, die knielangen Hoden eines alten Mannes. Nasenlöcher größer als die Augen eines Afrikaners.

Jedes Detail, jedes einzelne Haar auf den Krausköpfen, den Blondschöpfen und Halbglatzen, war naturgetreu wiedergegeben und strahlte dabei eine Liebe aus, eine »Richtigkeit«, die mich davon überzeugte, daß diese Bildhauerin die Kraft im Körper sieht und instinktive Verehrung für den Körper empfindet.

Es gibt ein paar vergleichbare Zeilen in Ntozake Shanges Bühnenstück for colored girls who have considered suicide. In dem Stück erzählt die Frau in Lila, was sie alles getan hat, um mit den Aspekten ihres Seins fertig zu werden, die von der Gesellschaft verleugnet oder verurteilt werden.

Mit den folgenden Zeilen schließt sie dann ihren Frieden mit sich:

Hier ist, was ich habe…

Gedichte

dicke Schenkel

kleine Titten

&  so viel Liebe

Das ist das Körperbewußtsein, aus dem wildnatürliche Frauen ihre Kraft schöpfen.

In Märchen und Mythen werden die Herzen von Menschen auf die Probe gestellt, indem ihnen die Götter und andere mächtige Geister in allen erdenklichen Verkleidungen erscheinen.

Das Göttliche taucht sowohl in Königsgewändern wie in Lumpen auf, in Fischhäuten und mit Klumpfuß.

Es zeigt sich als rosiges Kleinkind und als ausgemergelte Alte, als ein Mann ohne Stimme und als sprechendes Tier.

So wird das Menschenherz geprüft, um zu sehen, ob es gelernt hat; die zauberische Verwandlungskraft der Seele hinter all ihren Erscheinungsformen zuerkennen.

Die Wilde Frau tritt in allen Farben, Konturen und körperlichen Verfassungen auf. Schaut nur genauer hin; damit ihr sie nicht verkennt.