© Der Prophet - Khalil Gibran

 

Von Schuld und Sühne

Dann trat einer der Richter der Stadt vor und sagte: Sprich uns von Schuld und Sühne.

Und er antwortete und sagte:
Wenn euer Geist mit dem Wind wandert, begehrt ihr, allein und unbewacht,
ein Unrecht an anderen und dadurch an euch selber.
Und für dieses begangene Unrecht müßt ihr am Tor der Seligen anklopfen und eine Weile unbeachtet warten.
Wie der Ozean ist das Göttliche in euch; es bleibt ewig unbefleckt.

Und wie der Äther erhebt es nur die Beflügelten.
Wie die Sonne auch ist das Göttliche in euch;
Und wie wollt ihr euch über eure Tage und Nächte erheben, wenn ihr nicht die Ketten brecht, die ihr im Morgengrauen eures Verstehens eurer Mittagsstunde angelegt habt? In Wahrheit ist das, was ihr Freiheit nennt, die stärkste dieser Ketten, wenn auch ihre Glieder in der Sonne glitzern und eure Augen blenden.

Und was sind es anders als Teile eures eigenen Ichs, die ihr ablegen wollt, um frei zu werden?
Wenn es ein ungerechtes Gesetz ist, das ihr abschaffen wollt, dann habt ihr es mit eigener Hand auf eure Stirn geschrieben.
Ihr könnt es nicht auslöschen, indem ihr eure Gesetzbücher verbrennt oder die Stirn eurer Richter wascht, und wenn ihr das Meer darauf gießt. Und wenn es ein Despot ist, den ihr vom Thron stürzen wollt, seht zu, daß sein Thron zerstört wird, den ihr in euch errichtet habt.
Denn wie kann ein Tyrann die Freien und Stolzen regieren, außer durch eine Tyrannei ihrer eigenen Freiheit und eine Scham über ihren eigenen Stolz? Und wenn es eine Sorge ist, die ihr ablegen wollt, ist diese Sorge eher von euch gewählt als euch auferlegt.

Und wenn es eine Angst ist, die ihr verjagen wollt, ist der Sitz dieser Furcht in eurem Herzen und nicht in der Hand des Gefürchteten. Wahrhaftig, all das umarmt sich ständig in euch, das Ersehnte und das Gefürchtete, das Abstoßende und das Geschätzte, das Erstrebte und das, dem ihr aus weichen wollt. All das bewegt sich paarweise in euch wie Licht und Schatten, die einander verhaftet sind.
Und wenn der Schatten verblaßt und nicht mehr da ist, wird das Licht, das verweilt, zum Schatten eines anderen Lichts. Und so wird eure Freiheit, wenn sie ihre Fesseln ab legt, selber zur Fessel einer größeren Freiheit.


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