Christa, eine vierzigjährige
Witwe
Sie hatte vor zwei Jahren ihren Mann nach einem Autounfall verloren. Mir
fiel sie besonders wegen ihrer Verstummtheit und körperlichen Starre
auf. Ihr Gesicht war verfärbt und kränklich.
Sie wurde in letzter Zeit häufiger krank. "Mein Organismus hat
keine Abwehrkräfte mehr", sagte sie. "Ich nehme dauernd
ab und fühle mich immer müde. Ich fühle mich allein gelassen
und habe nachts Angst." Christa blieb in einer Ecke des Raumes sitzen,
und wenn ein Teilnehmer seine Trauer offen äußerte, ging sie
aus dem Raum, um zu rauchen, oder sie verfolgte das Geschehen mit einer
reservierten Miene. Nach einer Entspannungsübung mit Musik sprach
Christa von Bildern aus ihrer Kindheit. Sie sah sich darin als ruhiges
und braves Mädchen.
Wir setzten die Arbeit mit Atemübungen und Stimmexperimenten fort.
Ihre schwache, leise Stimme erhielt durch die Übung Farbe und Kraft.
Ich schlug vor, in eine Phantasie hineinzugehen und mit der Stimme zu
improvisieren. Anfangs waren es spielerische Töne, die sie mit den
anderen Teilnehmern austauschte. Es war, wie wenn Kinder mit ihrer Stimme
spielen. Sie bewegte locker ihren Körper,
dann wurde auf einmal ihre Stimme lauf.
Sie stoppte, als ob sie eine unangenehme Szene erblickte, und fing an,
laut und dauerhaft aggressiv zu schreien. Nach einigen Minuten ging das
Schreien in Weinen über, ein verzweifeltes Weinen. Schließlich
schluchzte sie nur noch, öffnete die Augen und fragte uns ängstlich,
was geschehen wäre. Wie wir nachher erfuhren, hatte Christa zum erstenmal
die Erfahrung gemacht, wie es ist, Trauergefühle zuzulassen. Als
Kind durfte sie nicht laut weinen und auch ihre Wut oder Freude nicht
lautstark ausdrücken. "Wir waren eine sehr ruhige Familie.
Die Nachbarn wußten nie, ob wir da waren. Meine Mutter hatte uns
zur stummen Bravheit erzogen.
Der Vater war sehr geräuschempfindlich und hatte viele Krankheiten,
bevor er mit einer chronischen Krankheit mehr als zehn Jahre das Bett
hüten mußte."
Sie erzählte auch, daß sie selbst ihren Mann nicht beweinen
konnte, als ihr danach war. Die Anwesenheit ihrer Mutter, die auf die
Kinder aufpaßte, hinderte sie. Unter solchen Umständen war
Christa aus Rücksicht, aus angelerntem Verhalten und aus Angst, sich
im Gefühlschaos zu verlieren, stumm geblieben. Die Szene im Seminar
beschrieb sie so:
"Ich werde lauter, und das gefällt mir. Ich fühle mich
als Kind, laufe herum und singe mit den anderen. Plötzlich taucht
das Bild des kranken Vaters auf, und die Mutter schimpft und versucht
mich zum Schweigen zu bringen. Dann werde ich wütend, ich schreie
sie zum erstenmal an, ich werde lauter,
ich sage, daß ich die Nase voll habe, und weine vor Angst und Wut.
Dann taucht das Bild meines Mannes auf, als sein Sarg hinuntergelassen
wird. Ich will schreien, daß sie damit aufhören sollen. Ich
möchte ihn nicht weglassen, ich will ihm noch sagen, daß ich
ihn sehr liebe. Ich hatte mich nicht getraut, es zu sagen, als er noch
lebte, weil ich dachte, das würde er als meine Schwäche erkennen."
Christas stumme Trauer kam zum Fließen. Sie steckte im ersten Trans-Zyklus
ihres Trauerverlaufs.
Im zweiten Stadium wurde die Blockierung durchbrochen. Christa konnte,
nachdem sie erfahren hatte, daß intensiver Ausdruck von Trauer eine
Erleichterung bringt und sie sich nicht dabei verlor, endlich ihren Mann
von ganzem Herzen beweinen. Am Ende des Trauerdurchgangs durch alle Stadien
der Verarbeitung konnte sie auch für ihren verstorbenen Vater Trauer
zum Ausdruck bringen. Sie konnte ihrem Mann ihre unendliche Liebe gestehen
und die Entscheidung mitteilen, ihn jetzt "nach zwei Jahren des Hin-und-Her-Gezerrtseins"
gehen zu lassen.
Beim ersten Nachtreffen
berichtete sie uns über Verbesserungen ihrer Gesundheit.
Ein Jahr später, als ihre Tochter das Gymnasium besuchte, fing Christa
an, halbtags bei einer Freundin zu arbeiten, die eine neue schöne
Boutique eröffnet hatte.
Den Rest des Tages verbrachte sie mit Lernen und einer Ausbildung zur
Computertechnikerin:
"Ich hatte nie gedacht, daß ich jemals diese l Energie bekommen
würde, um alle diese Dinge ohne Angst zu tun, daß ich so schnell
selbständig werden würde. Nach dem Tod meines Mannes dachte
ich, ich würde es nie schaffen. Mit meinen neuen Kontakten fühle
ich mich wohler."
Christa war im Seminar
durch den Ausdruck ihrer Trauer, nachdem alle Blockierungen und Hemmungen
beiseite geräumt waren, an die Quelle ihrer Energie gelangt. Wut,
Zorn, Verzweiflung, aber auch Liebesbeteuerungen zapften das seit der
Kindheit zurückgehaltene Energiepotential an.
Der Fluß der Quelle drehte sich zur Lebenseite.
"Das Leben ist schön", sagte sie mir zuletzt am Telefon.
"Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert."
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