"Trauer um den Lebenspartner"

Auszug aus: Teil VIII, Kap. 1

Christa, eine vierzigjährige Witwe

Sie hatte vor zwei Jahren ihren Mann nach einem Autounfall verloren. Mir fiel sie besonders wegen ihrer Verstummtheit und körperlichen Starre auf. Ihr Gesicht war verfärbt und kränklich.
Sie wurde in letzter Zeit häufiger krank. "Mein Organismus hat keine Abwehrkräfte mehr", sagte sie. "Ich nehme dauernd ab und fühle mich immer müde. Ich fühle mich allein gelassen und habe nachts Angst." Christa blieb in einer Ecke des Raumes sitzen, und wenn ein Teilnehmer seine Trauer offen äußerte, ging sie aus dem Raum, um zu rauchen, oder sie verfolgte das Geschehen mit einer reservierten Miene. Nach einer Entspannungsübung mit Musik sprach Christa von Bildern aus ihrer Kindheit. Sie sah sich darin als ruhiges und braves Mädchen.

Wir setzten die Arbeit mit Atemübungen und Stimmexperimenten fort. Ihre schwache, leise Stimme erhielt durch die Übung Farbe und Kraft. Ich schlug vor, in eine Phantasie hineinzugehen und mit der Stimme zu improvisieren. Anfangs waren es spielerische Töne, die sie mit den anderen Teilnehmern austauschte. Es war, wie wenn Kinder mit ihrer Stimme spielen. Sie bewegte locker ihren Körper,
dann wurde auf einmal ihre Stimme lauf.

Sie stoppte, als ob sie eine unangenehme Szene erblickte, und fing an, laut und dauerhaft aggressiv zu schreien. Nach einigen Minuten ging das Schreien in Weinen über, ein verzweifeltes Weinen. Schließlich schluchzte sie nur noch, öffnete die Augen und fragte uns ängstlich, was geschehen wäre. Wie wir nachher erfuhren, hatte Christa zum erstenmal die Erfahrung gemacht, wie es ist, Trauergefühle zuzulassen. Als Kind durfte sie nicht laut weinen und auch ihre Wut oder Freude nicht lautstark ausdrücken. "Wir waren eine sehr ruhige Familie.

Die Nachbarn wußten nie, ob wir da waren. Meine Mutter hatte uns zur stummen Bravheit erzogen.
Der Vater war sehr geräuschempfindlich und hatte viele Krankheiten, bevor er mit einer chronischen Krankheit mehr als zehn Jahre das Bett hüten mußte."

Sie erzählte auch, daß sie selbst ihren Mann nicht beweinen konnte, als ihr danach war. Die Anwesenheit ihrer Mutter, die auf die Kinder aufpaßte, hinderte sie. Unter solchen Umständen war Christa aus Rücksicht, aus angelerntem Verhalten und aus Angst, sich im Gefühlschaos zu verlieren, stumm geblieben. Die Szene im Seminar beschrieb sie so:
"Ich werde lauter, und das gefällt mir. Ich fühle mich als Kind, laufe herum und singe mit den anderen. Plötzlich taucht das Bild des kranken Vaters auf, und die Mutter schimpft und versucht mich zum Schweigen zu bringen. Dann werde ich wütend, ich schreie sie zum erstenmal an, ich werde lauter,
ich sage, daß ich die Nase voll habe, und weine vor Angst und Wut.

Dann taucht das Bild meines Mannes auf, als sein Sarg hinuntergelassen wird. Ich will schreien, daß sie damit aufhören sollen. Ich möchte ihn nicht weglassen, ich will ihm noch sagen, daß ich ihn sehr liebe. Ich hatte mich nicht getraut, es zu sagen, als er noch lebte, weil ich dachte, das würde er als meine Schwäche erkennen."

Christas stumme Trauer kam zum Fließen. Sie steckte im ersten Trans-Zyklus ihres Trauerverlaufs.
Im zweiten Stadium wurde die Blockierung durchbrochen. Christa konnte, nachdem sie erfahren hatte, daß intensiver Ausdruck von Trauer eine Erleichterung bringt und sie sich nicht dabei verlor, endlich ihren Mann von ganzem Herzen beweinen. Am Ende des Trauerdurchgangs durch alle Stadien der Verarbeitung konnte sie auch für ihren verstorbenen Vater Trauer zum Ausdruck bringen. Sie konnte ihrem Mann ihre unendliche Liebe gestehen und die Entscheidung mitteilen, ihn jetzt "nach zwei Jahren des Hin-und-Her-Gezerrtseins" gehen zu lassen.

Beim ersten Nachtreffen berichtete sie uns über Verbesserungen ihrer Gesundheit.

Ein Jahr später, als ihre Tochter das Gymnasium besuchte, fing Christa an, halbtags bei einer Freundin zu arbeiten, die eine neue schöne Boutique eröffnet hatte.
Den Rest des Tages verbrachte sie mit Lernen und einer Ausbildung zur Computertechnikerin:
"Ich hatte nie gedacht, daß ich jemals diese l Energie bekommen würde, um alle diese Dinge ohne Angst zu tun, daß ich so schnell selbständig werden würde. Nach dem Tod meines Mannes dachte ich, ich würde es nie schaffen. Mit meinen neuen Kontakten fühle ich mich wohler."

Christa war im Seminar durch den Ausdruck ihrer Trauer, nachdem alle Blockierungen und Hemmungen beiseite geräumt waren, an die Quelle ihrer Energie gelangt. Wut, Zorn, Verzweiflung, aber auch Liebesbeteuerungen zapften das seit der Kindheit zurückgehaltene Energiepotential an.

Der Fluß der Quelle drehte sich zur Lebenseite.
"Das Leben ist schön", sagte sie mir zuletzt am Telefon.
"Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert."