Die
Geschichte vom König und der Wilden Frau
Der
Krieg war vorbei und ein neuer nicht in Sicht. Der König langweilte
sich. Deshalb rief er alle Männer des Landes zur Jagd. Sehr früh
am Morgen sammelten sich die Männer vor dem Schloß. Sie hauchten
in ihre Hände, um sich zu wärmen, denn es war schon Herbst und
die Tage waren voll kühler Nebel. Die Königin verabschiedete
sich von ihrem Mann. Dann erklangen die Jagdhörner, und die Jagdgeselllschaft
ritt in den Wald. Den ganzen Tag jagte der König mit seinem
Gefloge, aber er sah nicht ein Tier. Am Abend vor dem Feuer berieten sich
die Gefolgsleute des Königs.
Aber auch vor den Zelten der Männer aus dem Volk gab es viel Erregung
und Streit, denn niemand hatte etwas gesehen, viel weniger geschossen.
Am nächsten Tag ritt der König nur mit wenigen Männern
los. Aber wieder jagte er den ganzen Tag und sah kein Tier. Die Entäuschung
machte sich in allen Lagern breit. Mürrisch und einsilbig gingen
die Männer schlafen. Am dritten Tag befah der König allen Männern,
bei den Zelten zu bleiben, bis er zurückkäme und zur Jagd bliese.
Er ritt in den Wald, eine eigenartige Ruhe hatte ihn ergriffen.
Gemächlich ritt der zwischen uralten Bäumen hindurch und besah
sich den Wald. Hin und wieder mußte er sich bücken, um unter
einem tief hängenden Zweig durchzureiten. Schließlich kam er
an eine Quelle. Er stieg ab, um zu trinken, und erstarrte. Vor ihm schienen
alle Tiere es Waldes versammelt zu sein. Sie starrten ihn seltsam an,
wie Menschen. Als er sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte,
griff er vorsichtig hinter sich zu seinem Bogen. Eine kühle Hand
legte sich auf seine. Die Berührung war so zart, daß er den
Atem anhielt. "Hast du nicht genug Menschen getötet, daß du
jetzt in den Wald kommst, um auch die Tiere niederzumetzeln?" sagte eine
weiche Frauenstimme hinter ihm. Er drehte sich um und lehnte sich gegen
sein Pferd.
Noch niemals hatte er eine so schöne Frau gesehen. Dabei war sie
weder besonders jung noch besonders hübsch. Sie hatte hellwache,
lebendige Augen, zarte und zugleich kräftige Hände un einen
kräftigen Körper, der sich unter ihrem kurzen Gewand abzeichnete.
"Wer bist du, daß ich, der König dich nicht kenne?" fragte
er.
"Wo willst du König sein, daß ich dich nicht kenne?" fragte
sie lächelnd zurück. "Komm mit mir, wenn du mir ganz gehören
willst, will ich dich mit Reichtümern überschütten." Die
Frau lachte und ließ seine Hand los, die sie festgehalten hatte.
"Geben kannst di mir nur, was dir gehört, und mich kannst du nicht
besitzen", sagte sie.
Sie strich über seine Haare und zog ihn an sich, legte ihre Stirn,
ihre Handflächen an seine, und er spürte ihren weichen und zugleich
festen Körper an seinem. Doch wie er die Berührung durch seinen
Körper fließen fühlte, sah er mit ihren Augen. Er sah
barbarische Männer, die sich gegenseitig abschlachteten, er sah tote
Körper, Blut, starre Augen, die im Tod gebrochen waren. Er sah sich
selbst das Schwert führen, und ein Schmerz durchfuhr ihn von dem
Zehen bis zum Kopf, als das Schwert einen Mann durchbohrte. Warum hatte
er das nie gefühlt? Was geschah mit ihm?
Er wollte fragen, aber seine Lippen konnten kein Wort formen, sein Hals
war trocken wie ein Flussbett im heißen Sommer. Das Atmen fiel ihm
immer schwerer, und sein Bewußtsein drohte zu schwinden. Sie hielt
ihn in ihren Armen und flüsterte: "Ja, schau es dir genau an, dein
Leben. Schau, was du getan hast und noch immer tust und tun wirst." "Wer
bist du?" flüsterte er heiser. Er spürte, wie sie ihm kleine
Nadeln hinter die Ohren drückte und wurde schlälfrig und wach
zugleich, sein Körper entspannte sich, aber seine Seele tauchte aus
der Tiefe der Nacht und zeigte ihm Bilder. "Ich komme aus der Zeit, in
der das Wünschen noch hilft, also von jetzt, von gestern und von
morgen." "Ich verstehe dich nicht", murmelte der König. Er ließ
sich in ihren Schoß fallen und vergrub sein Gesicht an ihrem Leib.
Jede Berührung ihrer Fingerspitzen auf seinem Nacken zeigte ihm neue
Bilder.
Er sah, wie sie mit den Bäumen sprach, wie sie sich an einen Baum
schmiegte, bis sie das Aussehen eines Baumstamms annahm und nun nicht
mehr von ihm zu unterscheiden war. Er sah sie, über die Quelle gebeugt,
wie ein Bild im Wasser zerfließen. Er sah sie rufen und singen auf
einem Felsen und versteinern, und als sie sich abends zum Schalf niederlegte,
wurde sie ein Teil der Erde, braun und satt, bewegte sich nur wenig und
wuchs am Morgen als Blume ans dem Boden. Seine Hände suchten nach
ihr, und eine nie gekannte Sehnsucht überfiel ihn, so daß er
weinte, bis er keine Tränen mehr hatte. Die ganze Zeit aber hielt
sie ihn und zog mit ihren Fingerspitzen kleine Wirbel über seinen
Körper. Als nun der König nicht kam, wurden die Männer
unruhig, denn er war schon drei Tage fort.
So begannen sie ihn zu suchen. Sie kamen in die Nähe der Quelle,
an der der König mit der schönen Waldfrau lag. Weil aber nun
der König all den weltlicehn Lärm, die Jagdhörner, das
Bellen der Hunde und den schweren Atem der Rosse hörte, schreckte
er auf und fühlte sich betrogen. Anstatt zu jagen, hatte er bei der
Frau geschlaften. Mir all den Tieren vor seiner Nase. Er war wütend
auf sich, und weil er das nicht zulassen konnte, richtete sich sein ganzer
Zorn auf die Waldfrau. Er sprang auf, gerade rechtzeitig, denn nun kam
die Meute von Männern, Hunden undRossen an die Quelle. "Nehmt sie
gefangen", schrie der König außer sich. "Sie ist eine Hexe.
Sie hat uns die Tiere fortgehext."
Ein großes Geschrei kam auf, denn die Zeit der mächtigen Frauen
war noch nicht so lange vergangen, und alle hatten Angst. Zwei Männer
rissen die Frau hoch. "Erlaube, hoher König, daß ich mir mein
Bündel zusammentrage", sagte die Frau sanft. Mürrisch gab er
nach. Sie kam mit einem Stoff aus rotem, blauem und weißem Muster
zurück, in das sie allerhand eingebunden hatte. Der König befahl,
die Frau auf sein Roß zu setzen, damit sie nicht fliehen konnte.
Aber in Wirklichkeit hatte sich die Sehnsucht in ihm festgehakt. Er konnte
ihre Berührung nicht vergessen. Konnte er seiner Sehnsucht auch nicht
offen nachgeben, so suchte er doch ihre Nähe. Zu zweit saßen
sie auf seinem Roß und machten sich auf den Weg zurück ins
Schloß. Nur ein einziges Mal drehte die Waltfrau sich um und sah
ihn an. Ihre Augen waren wie klare Kristalle, die in jede dunkle Kammer
leuchten konnten. Er schauderte. Im Schloßhof stiegen sie ab. Der
Rat wurde einberufen. Es sollte beraten werden, ob sie einen Hexe sei
oder nicht. Und da sie so einen festen Blick hatte, zuckten die Ratsherren
unruhig zusammen und empfahlen, sie in den Turm zu werfen.
Ihr Bündel wurde geöffnet, und darin fand man einen Hirschzahn,
eine Haselgerte, Federn, ein Vogelei, die Haare eines Fuchses, einen Stein
mit einem Loch und ein kleines Stück Stoff mit drei Blutstropfen.
"Das solllte man ihr abnehmen, denn das sind ihre Hexenutensilien", sagte
einer der Berater. Der König willigte ein, doch schien dieser Besitz
ihm so kostbar, daß der das Bündel selbst an sich nahm. Die
Waldfrau wurde in den Turm geworfen, und als das große, ruhige Jagdmahl
eingenommen war - zu feiern gab es ja nichts, und auch das Wildbret fehlte
-, gingen alle zu Bett. Kaum hatte der König sich hingelegt, kam
eine seltsame Musik aus dem Bündel der Waldfrau.
Er untersuchte es von allen Seiten, konnte aber nichts finden, das Musik
erzeugt hätte. So legte er sich wieder hin.
Er schloß die Augen.
Da fühlte er die Brührung der Waldfrau: ihre Stirn an seiner
Stirn, ihre Handflächen an seinen Handflächen, ihr Körper
an seinem Körper. Wieder hörte er die Musik, und die Sehnsucht
durchpulste ihn, so daß Tränen aus seinen Augen liefen. Sein
Fleisch aber suchte den Körper der Waldfrau, und er starb mit weit
offenen Augen in ihren Armen.
"Warum hast du das getan?" fragte sie leise. "Was getan?" murmelte er
schläfrig. "Warum hast du mich in den Turm geworfen." "Ich weiß
es nicht", sagte er. "Eine Frau wie dich darf es nicht geben, denn sonst
kann es ein Reich wie meines nicht geben." Sie lachte. "Glaubst di wirklich,
du könntest mich mit ein paar Fesseln festhalten?"
Er fuhr hoch. Sie saß an seinem Bett und lächelte ihn an. Er
griff nach ihr, und da saß sie in Fleisch und Blut wie er selbst.
Als er ihren Körper fühlte, bekam er abermals Lust, sie zu besitzen,
und packte sie grob. Aber zwischen seinen Händen war nichts als Luft.
Das erboste ihn sehr, zumal er mit niemandem darüber sprechen konnte.
Am nächsten Tag ging er in den Kerker. Da saß die Waldfrau,
sehr blaß. Er sah sie prüfend an. Dann bemerkte er den Ring
an ihrem Finger. "Es ist also nicht das Bündel, das dir Macht gibt,
sondern der Ring", sagte er und zog ihn grob von ihrem Finger. Der Ring
aber zeigte eine Frauengestalt mit einem Vogelkopf und großen Brüsten.
Schnell steckte er den Ring in die Tasche. Er hatte ein ungutes Gefühl
dabei, denn der Ring war ihm heiß ud pulsierend erschienen. Hastig
verließ er den Kerker, ohne noch ein Wort mit der Waldfrau zu sprechen.
Am Abend war er launisch und wollte nienmanden sehen. Seine Diener brachten
ihm Essen, aber nichts schmeckte ihm. Der Narr wollte ihn unterhalten,
aber er gab ihm einen Tritt. Alle runzelten die Stirn. War der König
schon verhext? War er krank? Bald ging er schlafen. Doch kaum lag er im
Bett, hörte er wieder Musik, und Sehnsucht floß durch seinen
Körper, daß er weinte wie ein Kind. Er nahm den Ring aus der
Tasche und besah ihn genau. Mit den Fingerssspitzen fuhr er über
die Konturen des Rings. Doch während er die Brüste der Vogelfrau
auf dem Ring betastete, fühlte er Fleisch unter seien Fingern, rang
nach Atem und starb abermals in den Armen derWaldfrau.
Dann lag er matt auf dem Bett und versuchte nachzudenken. Doch die Stirn
der Waldfrau berührte seine Stirn, ihre Handflächen schlossen
sich mit seinen zusammen, und ihr Körper drängte sich an seinen
Körper. Schier gegen seinen Willen regte sich sein Fleisch, und er
griff mit der Hand nach derWaldfrau. Kaum hatte er sie gepackt, löste
sie sich unter seinen Händen un Luft auf. Am Morgen war er so müde
und erschöpft, daß alle ihm aus dem Weg gingen. Noch vor dem
Frühstück - er hatte sowiesso keinen Hunger und fühlte
sich krank und matt - ging er in den Kerker. die Waldfrau saß so
blaß auf dem Stroh wie am Tag zuvor. Er sah in ihre Augen. Sie lächelte.
Er wußte nicht was er sagen, was er sie fragen sollte. Eine lähmende
Verzweiflung überfiel ihn. Mit quälend langsamen Bewegungen
nährte er sich ihrem Hals, um den sie ein Lederband mit einem
Stein trug. "Nimm das ab", befahl er heiser, denn nun war er sicher, daß
die Kette das Mittel ihrer Macht war.
Sie nahm die Kette ab und hielt sie ihm hin. "Ich werde dich töten
lassen", sagte er mühsam. "Keine Frau kann Macht über mich haben."
"Du bist es selbst", entgegnete sie leise. "Ich habe keine Macht über
dich. Es sind deine Gedanken. Deine Sehnsucht. Ich habe dich erkannt.
Warum willst du dich nicht selbst ansehen?" Der König lachte höhnisch.
"Morgen!" rief er. "Morgen wirst du mich auf den Knien um Gnade bitten.
Denn morgen lasse ich dich hinrichten, nun habe ich alle deine Zauberdinge.
Mit dir ist's vorbei!" Er lief aus dem Kerker. Aber den ganzen Tag konnnte
er nicht essen und nicht sprechen und mußte immerzu an die wunderbare
Berührung der Nacht denken. Je größer seine Sehnsucht
wurde, um so mehr haßte er sich dafür, daß die Frau so
eine Wichtigkeit in seinen Gedanken bekommen hatte. In der Nacht lag er
auf seinem Fell und starrte zur Decke. Seine Finger hielten die Zauberkette
erWaldfrau und spielten mit dem Stein. Doch wie er die Rundung des Steins
fühlte, wallte die alte Sehsucht in ihm hoch, und er rang nach Atem
und starb in den Armen derWaldfrau. Ruhig lag er damm mit geschlosssenen
Augen und wartete. Er wartet auf die Berührung der Stirn, der Handflächen,
der Körper. Er spannte alle Muskeln und Sehnen an. Nichts schien
ihm jetzt wichtiger als die Berührung derWaldfrau.
Ohne sie konnte er nicht weiterleben. "Wirklich?" fragte sie spöttisch.
Er öffnete die Augen. Da saß sie vor ihm.
An ihrem kurzen Keid hingen noch Strohhalme vom Boden des Kerkers. Wieder
wurde er wütend. Wie war es ihr gelungen, aus dem Kerker zu
entkommmen? "Siehst du", sagte sie. "Du sehnst dich nach mir, doch nur,
um mich gleich darauf dafür zu hassen. Du gibst dich nicht hin. Dabei
geht es nicht um mich, sondern um dich. Bring deine Nacht und deinen Tag
zusammen, sonst stirbst du. Wie ist es möglich, daß dein Mund
'nein' ruft, während deine Augen 'ja' sagen? Wie ist es möglich,
daß du dich im Schlaf an mich klammerst, und am Tag willst du mich
verurteilen? Öffne deine Augen nach innen und nach außen",
sagte sie. "Nun muß ich gehen. Schon viel zu lange bin ich hier".
Sie strich ihm mit weichen Händen über seine Augen. Er seufzte,
und ehe er sich besann, war er eingeschlafen. Am anderen Tag gab es ein
großes Gschrei, denn die Waldfrau war verschwunden.
Der König stieg hinunter in den Kerker. Er setzte sich dorthin, wo
die Waldfrau drei Tage und drei Nächte verbracht hatte. Als er aber
das Stroh zu seinen Füßen betrachtete, sah er zwischen den
Halmen einen glitzernden Stein liegen.
Er hob ihn auf. Fast schien es ihm, als habe der Stein die Form eines
Auges, und als er tiefer und tiefer hineinsah, zeigten sich die Augen
der Waldfrau darin und schließlich seine eigenen. An der Kerkertür
warteten die Wächter.
Sie riefen den König, aber er gab keine Antwort. Abends schließlich
ging der Berater des Königs hinunter in den Kerker, nahm ihn am Arm
und zog ihn ins Freie. Als der König auf dem Hof stand und die kühle
Abendluft roch, schüttelte er sich leicht, umklammerte mit der Linken
den Kristall, lächelte und lief wie ein Kind durchs Tor hinaus in
den Wald.
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