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„Ehrfurcht
vor dem Leben
Wer über die Welt und sich selber nachdenkt, merkt, dass alles, was
ihn umgibt, Pflanzen, Tiere, Mitmenschen, genau gleich am Leben hängt
wie er selber. Wer das begriffen hat, muss ihnen allen in Liebe begegnen.
Aus Achtung vor Gott, der jedem Wesen das Leben schenkt, damit es seine
Aufgabe erfüllen kann, gilt es, jedem Achtung entgegenzubringen und
ihm zu seiner Erfüllung zu verhelfen.
Das ist das dem Menschen schöpfungsgemäß angemessene richtige
Verhalten.
Wer das tut, handelt gut. |
Was ist Ehrfurcht vor dem Leben, und wie entsteht sie in uns? Die unmittelbarste
Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: ‘Ich bin Leben, das
leben will, inmitten von Leben, das Leben will.’ Als Wille zum Leben
inmitten von Willen zum Leben erfasst sich der Mensch in jedem Augenblick,
in dem er über sich selbst und über die Welt um sich herum nachdenkt.“
Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem
Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vordem Leben entgegenzubringen
wie dem eigenen.
Er erlebt das andere Leben in dem seinen.
Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben
auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten,
Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten.“
Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen.“
Ethisch ist der Mensch nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze
und des Tieres wie das des Menschen,
heilig ist und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt. Nur
die universelle Ethik des Erlebens der ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung
gegen alles, was lebt, lässt sich im Denken begründen.“
Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift also alles in sich,
was als Liebe, Hingabe, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben, bezeichnet
werden kann.“
Albert Schweizer
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