Aus: Die Seepriesterin von Dion Fortune

Göttinen

Dann schilderte sie mir, wie sich die Alten die Priester vorgestellt hatten - als Medien; aber es war nicht der personalisierte Gott, der durch den besessenen und erleuchteten Priester sprach oder durch die Pythia, denn der personalisierte Gott ist die Form, in der der Mensch sich diese Mächte erklärt.

Der wahre Gott ist anders.
Der Priester des Gottes entwickelte seine Kräfte weiter.
Was in ihm ruhte, kam frei, und er wurde für kurze Zeit so, wie alle Menschen wären, wenn sie sich weiterentwickelten."
Was sind dann die Götter?
Die Götter mögen es wissen, wir wissen nur eins: Wenn wir bestimmte Dinge tun, werden wir weiterkommen.
Und was sind diese ,bestimmten Dinge'?
"Ich werde es dir sagen", meinte sie und erzählte weiter:

Durch seine männliche Natur birgt jeder Mann in sich die Gabe, ein Priester zu sein, und dasselbe gilt für die Frau; denn der Göttliche Funke schuf die Welt, indem er seine ungeteilte Einheit in die sich offenbarende Dualität teilte, und wir, als Ergebnis der Schöpfung, sind durch unser Leben Ausdruck der unsterblichen Wirklichkeit.

Jede lebende Seele hat ihren Ursprung im Göttlichen Funken und erhält von ihm ihre Lebenskraft, und wenn wir zum Urquell zurückgehen, finden wir die Erfüllung unseres Seins.

Weil wir aber beschränkte und unvollkommene Lebewesen sind, können wir das Unendliche in seiner Ganzheit nicht erkennen. Wir, in der Form unseres Körpers gefangen, können das Formlose nur soweit begreifen, wie es sich unser Geist, der nur diese eine Form kennt, vorstellen kann.
Und dies, fuhr Morgan le Fay fort, ist nicht sehr viel, auch wenn die Physiker um einiges weitergehen.
Wir, Wilfred, die wir Mann und Frau sind und Gott erkennen wollen, wie Er sich in der Natur offenbart - wir sehen den lichtvollen Ausdruck des Ewigen in den wunderbaren Gestalten der Götter.
Und auf diese Art und Weise lernen wir mehr und tun wir mehr, als wenn wir nach abstrakten Inhalten streben wurden, die uns ohnehin verborgen bleiben. Der Mondpriester, dessen Schülerin sie gewesen war, hatte sie gebeten, zum Urquell zurückzugehen und sich dem Einen zu weihen und allen niedrigeren Formen der Menschwerdung zu entsagen. Nachdem sie sich dem Einen geweiht, jene Verwirklichung gewonnen und die Wurzeln ihres Seins gefunden hatte, ließ er sie erkennen, wie sich das Leben in allen Dingen offenbart, und damit auch in ihr selbst. Und er lehrte sie, daß das Leben zwei Arten oder Aspekte hat: das agierende, dynamische, stimulierende - und das latente und potente, das den Reiz aufnimmt und darauf reagiert.

Er zeigte ihr, wie sie ihre Plätze tauschen in einem ewigen Wechsel von Geben und Nehmen, Kraft sammelnd und abgebend, niemals im Gleichgewicht, immer im Fluß wie Ebbe und Flut, gleich dem Mond und der See und den Gezeiten des Lebens - steigend und fallend, zunehmend und abnehmend, aufbauend und zusammenfallend im Tanz des Lebens zu Sphärenklängen. Er zeigte ihr auch, wie der Lauf der Sonne durch den Sternengürtel des Tierkreises den größten aller Zyklen darstellt. Und der Lauf der Gestirne im Tierkreis, fuhr sie fort, ist die Quelle des Glaubens.

Heutzutage tritt die Sonne in das Zeichen des Wassermanns, das Symbol des Menschen.
Die alten Götter kehren zurück, und der Mensch findet Aphrodite, Ares und den großen Zeus in seinem eigenen Herzen. Dies ist der Beginn des neuen Zeitalters.
Morgan le Fay erzählte mir, daß sie für sich den Kult der Großen Göttin gewählt hatte, der Urmutter.
Diese Göttin werde symbolisiert durch den Kosmos, die See und die Erde.
Sie war Rhea und Ge und Persephone, aber vor allem war sie Unsere Mutter Isis, in der sich alle diese Göttinnen vereinten; denn Isis ist beides - Göttin der keimenden Saat und Königin der Toten, zu denen auch die Ungeborenen gehören, und sie trägt die Mondsichel auf ihrem Haupt.
Sie ist aber auch die See, denn das Leben entstand in der See, und in ihrem dynamischen Aspekt entstieg sie den Wellen als Aphrodite.

Und Morgan le Fay, diesen Dingen weiter auf der Spur, hatte die Symbole der einzelnen Kulte studiert, denn alle verehrten dieselbe Macht unter verschiedenen Namen und unter verschiedenen Aspekten, bis sie schließlich das fand, was ihrer Natur entsprach - weder den strengen ägyptischen Glauben noch die strahlenden Götter der Griechen, sondern den urbretonischen Kult, der seine Wurzeln in Atlantis hatte, das die dunklen ionischen Kelten mit den Bretonen und Basken teilen.
Dieser Kult, erklärte sie, ist älter als die Götter des Nordens, und in ihm liegt die größte Weisheit,
denn die Götter des Nordens sind ohne Geist, sie sind Ausdruck der Form, die ihr kämpfende Menschen gegeben haben.

Die Große Göttin ist älter noch als die Götter, die die Götter schufen, denn die Menschen kannten die Rolle der Mutter, lange bevor sie die Rolle verstanden, die der Vater spielte; sie beteten den Vogel der Unendlichkeit an, der das Urei legte, lange bevor sie die Sonne als die alles schaffende Kraft verehrten. Die Bibel wie auch die Felsen bezeugen, daß alles Leben aus der See stammt, und sie haben recht, denn es gab eine Zeit, da bedeckte Wasser das Land. Dann kam die Zeit, da sie den Plan des Vaters erfuhren, sie suchten in der Natur den befruchtenden Vater und erkannten, daß es die Sonne war. So beteten sie die Sonne an genauso wie die See; aber der Seekult ist älter, denn die See ist die Große Mutter.

In meiner Verehrung des Mondes und der See, fuhr Morgan le Fay fort, hatte ich den passiven Teil gewählt. Ich mußte auf die befruchtende Kraft warten, und ich warte immer noch. Könnte es sein, fragte ich, daß ich diesen Teil übernehmen soll, Morgan le Fay, weil ich dich liebe? Mag sein, wir können es nur versuchen. Aber es spielt keine Rolle, ob du mich liebst oder nicht, wenn du nur die Energie durchbringen kannst. Für mich spielt es eine große Rolle, sagte ich. Für mich nicht, beharrte sie, denn ich bin eine geweihte Priesterin, und wenn es für dich eine Rolle spielt, wirst du die Energie nicht durchbringen. Zu der Zeit verstand ich noch nicht, was sie meinte. Du trägst in dir Dinge, die ich zuvor bei keinem bemerkt habe. Und sie erklärte mir noch einmal, daß jedes Lebewesen zwei Aspekte in sich birgt, den positiven und den negativen; den gebenden und den empfangenden; den männlichen und weiblichen. Dies kommt in seiner elementarsten Form im Physischen zum Ausdruck. Bei normalen Menschen ist einer dieser Aspekte vorherrschend, und der andere tritt zurück, und diese Spannung nennen wir Sexualität. Obwohl latent, ist der zurücktretende Aspekt vorhanden, wie es jene wissen, die sich mit Störungen und Krankheiten des Körpers beschäftigen - und erst recht jene, die mit den Verirrungen der Seele zu tun haben. Die Alten machten sich darüber keine Gedanken, sondern sagten, die Seele wäre bisexuell, und wenn sich der eine Aspekt in einem Körper verwirklichte, schlummerte der andere verborgen in der geistigen Welt. Wenn wir in unser Herz schauen, erkennen wir, wie wahr dies ist, denn jeder von uns hat zwei Seiten der Natur - die eine, die vorangetrieben wird durch ihre eigene Dynamik und die andere, die schlummert, die auf Inspiration wartet. Bei einem Mann ist es seine spirituelle Natur und bei einer Frau ihr dynamischer Wille.

Dann erklärte sie mir, daß bei einigen Menschen beide Seiten der Natur nahezu im Gleichgewicht lägen, und dies sei keine widernatürliche Entgleisung des Körpers oder der Triebe, sondern eine Frage des Temperaments. Widernatürlich wird es, wenn der dominante Faktor unterdrückt wird. Priesterinnen haben keine persönlichen Bindungen.