Akron / H.R. Giger Baphomet 'Tarot der Unterwelt'
etwas geküzt und aufgenommen

Das Geheimnis der Mondin

Die Mondin erzeugt jenes schmachtende Gefühl nach dem authentisch gründlichen, Unerforschlichen, Ungesehenen, das jedes Bild, das sich unsere Vorstellung vom Geheimnis macht, wie einen Luftballon in höhere Schichten des Geistes auftreibt, in denen unsere begrenzte Auffassungsgabe nichts zu erfassen vermag. Ein Gefühl also, welches das Bewußtsein glauben macht, daß es aus sich selbst heraus existiert, das aber doch nur die unbewußte Sehnsucht reflektiert. Ein Gefühl aber auch, das unsere Seele anregt, sich Bilder zu bilden. Denn die Mondin segelt in einem Meer aus inneren Empfindungen, die der Grenzüberschreitung und Selbstauflösung huldigen, und die Welt zeigt sich ihm wie durch das Fenster eines Traumes, in dem Realität Einbildung miteinander verwoben sind. Die Sonne benutzt die Mondin gleichsam als Spiegel, um sich selbst besser verstehen zu lernen. Und die Mondin fühlt sich herausgefordert, dieses Spiel mitzumachen und seine Regeln einzuhalten aber durch ihre innere Natur gleichzeitig jegliche Spielregeln auflöst,: wir im psychischen Magnetfeld dieser Karte den vielsagenden Widerspruch, daß eine Lebensperspektive nach ihrer Auflösung um so schärfere Konturen gewinnt. Durch das Erkennen einer höheren Wirklichkeit werden die inneren Kräfte gestärkt, um jene Dimensionen zu erreichen, aus deren Universalität andere Wirklichkeit sich selbst zeugt. Unsere moderne Einstellung blickt stolz auf die Nebel von Aberglaube mittelalterlicher oder primitiver Leichtgläubigkeit zurück und vergißt vollständig, daß wir die ganze Vergangenheit in den tieferen Stockwerken unseres rationalen Bewußtseins mit uns tragen. Ohne diese tieferen Schichten hängt unser Geist in der Luft. Kein Wunder, daß er nervös wird. Die wahre Geschichte des Geistes ist nicht in gelehrten Büchern aufbewahrt, sondern in dem lebendigen Organismus jedes einzelnen. C. G. Jung: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 37. (Walter Verlag: Olten)

Wir sind gleichzeitig die Autoren, Regisseure und Akteure in einem Stück, das selbst nur ein Akt in einem größeren Schauspiel ist, das innerhalb eines noch größeren Dramas nur ein Spiel der Schöpfung Gottes darstellt, das seit Äeonen auf der kosmischen Bühne gespielt wird. Die Welt der Mondin ist nicht die Welt, die wir durch unsere Rationalität erfahren können. Sie ist kein dreidimensionales Gebilde, durchschaubar bis in die Haarspitzen der Mikrostrukturen, sondern sie enthüllt sich uns in der Trunkenheit der Sinne oder in unseren Träumen - und zwar in all ihren Paradoxien, Dichotomien (Zweiteilung; Gabelung) und Antinomien (Widerspruch von Gesetzen, Sätzen in sich).

Die Träumerin träumt, und die Träumerin im Traum träumt ihr Geträumtes, sie ist sowohl Beobachterin wie auch Akteurin, denn es gibt nichts, was außerhalb ihres Traumes liegt. Somit wird die Illusion (XVIII Der Mond) der realen Erfahrung (XIX Die Sonne) an die Seite gestellt, und zwar im Grunde als gleichberechtigte existentielle Erfahrung.

Denn erst an den Überschneidungen zwischen den "inneren Sehnsüchten" und den "äußeren Bildern" dämmert der individuelle Seeleninhalt herauf.

Platon schreibt in seinem berühmten Höhlengleichnis:


Es geht uns so wie Menschen, die gefesselt in einer Höhle sitzen, das Gesicht gegen die Hinterwand gekehrt; alles, was sie erkennen, sind die Schattenbilder, die ein Feuer hinter ihnen auf die Wand der Höhle wirft Könnten sie sich umdrehen, dann würden sie die Wirklichkeit als Trugbild entlarven, weil sie dafür keine Vorstellung haben. Sie wären nicht in der Lage, die Realität zu erkennen, denn in ihrer "Wirklichkeit" sind die Schatten die Realität und die Wirklichkeit Teufelsspuk und Blendwerk. Der Staat, VII

 

Die Mondin ist einerseits das Gestirn ohne eigenes Licht, unter deren abnehmenden Schein Hexen und Giftmischer ihre todbringenden Kräuter sammeln, um in der Welt Verwirrung und Schwäche, Perversion und Täuschung, Betrug und Schwindel hervorzubringen.

Andererseits ist sie aber auch der Weg, der zu den Geistern der Wasser, zu den Quellen der Träume und des Unbewußten hinabführt. Es ist der Gang durch das Wasser, der die Seele befähigt, das Spektrum ihrer Wahrnehmung zu erweitern, sondern auch den inneren Kern der Dinge zu erkennen vermag.

Unser Auge projiziert das innere Bild unser Vorstellung auf die äußere Welt, genauso wie die Erfahrungen der äußere Welt, genauso wie die Erfahrungen der äußeren Welt auf unsere innere Vorstellung einwirken.

Wenn wir erkennen, daß wir unseren Wünschen dadurch Sinn geben, daß wir sie zuerst nach außen projizieren, um sie dann als erkannte Realität wieder zurückzunehmen, entlarven wir die Stabilität der Welt als eine Illusion, hervorgegangen aus uns selbst. Die sichtbare Welt und ihre unsichtbare Göttin sind das Erscheinungsbild unserer Träume, weil alles, was wir wähnen, nur die Materialisation dessen ist, was wir träumen. Die Mondin trinkt ihr Licht aus dem unerschöpflichen Born des Unbewußten, das unseren Träumen, bevor sie sich zu erlebbarer Wirklichkeit gestalten, die inneren Urbilder und Archetypen zur Verfügung stellt.

Sobald wir erkennen, daß die äußeren Handlungen nur das eine Ziel vor Augen haben - nämlich alle Vorstellungsinhalte auf die Ebene hinunterzuziehen, auf der sie sich selbst reflektieren, und sie dann damit in Übereinstimmung zu bringen, was sich tatsächlich in der Außenwelt vorfindet -, verbirgt sich die Wirklichkeit nicht mehr hinter der Ambiguität (Doppelsinn, Zweideutigkeit) der Frage:
"Was träumt die Göttin?", sondern sie offenbart sich überraschenden Antwort: "Uns!"