--------------------------Der Asylant hieß Wolf

von Karin Hutter

Der Asylant hieß Wolf und war auch einer. Während sich vor Jahren westliche Wissenschaftler die Köpfe heiß redeten, wo denn wohl der Bevölkerung eine Wiederansiedlung zugemutet werden könnte, hatte der sich längst aufgemacht. Hatte aus dem Osten kommend die Grenze überquert, und war ohne wissenschaftlichen Segen und offizielle Erlaubnis in das Land eingewandert, das damals DDR hieß. Heimlich und unbemerkt, doch immer unter Lebensgefahr. Hin und wieder ist es einem Einzelgänger gelungen, bis nach Mecklenburg und Brandenburg vorzudringen. Doch Asyl wurde nicht gewährt. Wo er auftauchte wurde scharf geschossen. Von Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht keine Spur. Canis lupus war jagdbar wie eh und je, noch nicht einmal eine Schonzeit wurde ihm zugebilligt. So kam es denn, dass die großen Jäger des Arbeiter- und Bauernstaats ganz nebenbei einen nach dem anderen zur Strecke brachten, und damit die Rückkehr des Wolfs in seine alte Heimat verhinderten. Zu einer Zeit, wo auf internationalen Symposien aufwendige Programme zur Rettung der letzten Wölfe Europas beschlossen wurden und sich ihr Bestand in klassischen „Wolfsländern“ an den Fingern einer Hand abzählen ließ.

Mit der Vereinigung wendete sich auch dieses Blatt. Der Wolf erhielt sein Recht. Wiedergutmachung war angesagt. Aus dem Gejagte, Verfolgten, Verfemten wurde über Nacht ein vom Aussterben Bedrohter, der unter dem besonderen Schutz des Staates steht. Jagd ist seither verboten. Töten illegal und strafbar. So steht es jedenfalls auf dem Papier.

Willkommen Asylant? Nicht so hastig! Zunächst die Auflagen: Benimm dich gut, sei unauffällig. Vergreif dich nicht an unserem Vieh. Such dir eine Nische und komm uns nicht in die Quere. Ängstige unsere Frauen und Kinder nicht. Und vor allem, schweig still. Deine Stimme jagt uns kalte Schauer über den Rücken – schon seit altersher. Illegale erhalten Bleiberecht. Vorläufig. Ein Anspruch auf Einbürgerung ist damit nicht verbunden. Wer weiß, wie viele noch nachdrängen. In diesem Fall müssten wir allerdings drastische Maßnahmen ergreifen...

Kurze Zeit später, im Mai 1991, rauschte es gewaltig im Blätterwald. Was die Wiedervereinigung nicht alles vermag, selbst Totgesagte kehren zurück. In Brandenburg wurden Wölfe gesehen, Wölfe mitten im Mai! Das waren Schlagzeilen. Manche trieften rot, blutig rot. Was fast unterging. Der Wolf machte erst Medienkarriere, nachdem man vier seiner Artgenossen umgebracht hatte. Und es waren wie in historischer Zeit Jäger, die die Todesstrafe vollzogen. Grundlos, sinnlos und in jedem Fall widerrechtlich. Aber das war schon nicht mehr der Rede wert.

1. Mai 1991 in Perleberg. Ein junger, scheuer Wolfsrüde wird im Beisein des örtlichen Zoodirektor und der Polizei von einem Revierjäger erschossen. Dass Tier hatte sich in der Nähe des Zoos herumgetrieben und Kontakt mit seinen eingesperrten Artgenossen gesucht. Gefahr im Verzug! Hastig – als müsse man anderen Lösungen zuvorkommen, wird das Todesurteil vollstreckt. Aufgrund widersprüchlicher Angaben der Beteiligten war es offenbar unmöglich, eine passende Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen zu finden. Der Fall zog keine rechtlichen Konsequenzen nach sich.

3. Mai 1991. Ein Jäger, der im Kreis Bernau auf der Pirsch ist, entdeckt den nächsten Wolf. Er feuert ohne zu zögern. Seine Schutzbehauptung, er habe das Tier für einen wildernden Hund gehalten, ist anscheinend nicht besonders glaubwürdig. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wird eingeleitet – und alsbald wieder eingestellt.

Zwei Wochen später, am 17. Mai 1991, erschießt ein Berliner Jäger bei Buckow, zwischen Pritzhagen und Ihlow, den dritten Wolf. Und obwohl sich nach seinen Aussagen in Begleitung dieses Tieres noch ein zweites gleichaussehendes befunden hatte, bleibt er bei der Behauptung, er habe den Wolf für einen wildernden Hund gehalten. Um den Skandal perfekt zu machen: Das zweite Tier, das ihm nur zufällig durch die Lappen ging, war eine Wölfin, die Saugwelpen zu versorgen hatte. Sie konnte von einem glaubwürdigen Zeugen kurz nach dem gewaltsamen Tod ihres Partners mit etwa acht Wochen alten Jungen in der Nähe des Tatorts beobachtet werden. Nur diese Nachricht wurde der Öffentlichkeit als kleine Sensation präsentiert. Was totgeschwiegen wurde: Die Jungen sind durch den Verlust des Vaters, dem bekanntlich eine tragende Rolle bei der Jungenaufzucht zukommt, mit großer Sicherheit verhungert. Für den Jäger, der die Jungen wie auch den Vater auf dem Gewissen hat, blieb die (zumindest) fahrlässige Tötung einer besonders geschützten Tierart ohne Folgen. Der erschossene Wolfsrüde wurde nach Dresden verfrachtet und vom Staatlichen Museum für Tierkunde untersucht. Es handelt sich ohne Zweifel um einen „echten“ Wolf in den mittleren Jahren.

Am 24. Mai 1991 in Zepernick: der vierte tote Wolf – ein junger Rüde. Das verletzte, stark hinkende Tier hatte sich, in die Enge getrieben, in den Keller eines Wohnhauses geflüchtet. Es wird wegen Tollwutverdachts erschossen. Die Obduktion ergibt eine doppelte Oberschenkelfraktur der linken Hinterhand, was auf einen Verkehrsunfall schließen lässt. Tollwut lag nicht vor. Die Tatsache, dass dieser verängstigte und an Schmerzen leidende Wolf die Nähe des Menschen suchte, gab Anlass, heftig über seine Herkunft zu spekulieren.

Für eine Weile verschwand das Thema aus den Schlagzeilen. Bis am 27. August 1993 ein Wolf auf dem nordöstlichen Autobahnring um Berlin – etwa 15 km vom Kurfürstendamm entfernt – überfahren wird. Während sich ängstliche Naturen schon von Wolfsrudeln umzingelt sehen, und eine süddeutsche Tageszeitung ihre Leser auf eine mögliche Wolfsinvasion in die bayerische Landeshauptstadt vorbereitet, haben sich andere längst einen passenden Reim darauf gemacht. Schuld an der Wolfsplage, unter der besonders Brandenburg zu leiden habe, sei – wen wundert`s – der Russe. Abziehende GUS-Soldaten hätten ihre Wolfshybriden, Hunde-Wolfsmischlinge, einfach zum Teufel gejagt, die sich nun ungeheuer vermehrten und Brandenburg unsicher machten. Von Plage ist die Rede und von Gefahr. Dass sie nur durch beherztes Eingreifen von Jägern gebannt werden kann, muss nicht ausdrücklich betont werden.

Nein, es sei nicht zutreffend, teilt das brandenburgische Umweltministerium auf Anfrage mit, dass sich Wolfshybriden ausbreiteten und zur Plage geworden seien. Nicht auszuschließen sei jedoch, dass tatsächlich einzelne Wolfshybriden oder sogar Wölfe von GUS-Soldaten bei ihrem Abzug in Brandenburg ausgesetzt und zurückgelassen wurden.

Denn wird es wieder still an der östlichen Wolfsfront – verdächtig still. Bis sich nicht mehr verheimlichen lässt, dass am 23. Juli 1994 bei Gandenitz, nordwestlich von Templin in der Uckermark, der sechste Wolf zu Tode kam. Er wurde von einem Jäger aus Nordrhein-Westfalen „mit einem sauberen Blattschuss als wildernden Hund erlegt“. Der saubere Waidmann, ausgestattet mit einem Begehungsschein für diesen Bezirk, saß nach Sonnenuntergang auf Füchse an. In sicherer Schussentfernung hatte er Schlachtabfälle als Lockspeise deponiert. Als sich anstelle des erwarteten Fuchses ein riesenhafter Wolf dafür interessierte, muss der frustrierte Fuchsjäger rot gesehen und abgedrückt haben. Es hätte ja auch ein Schäferhund sein können.
Zum Abschuss wildernder Hunde war der Gastjäger angeblich autorisiert.

Die nächste Nachricht vom gewaltsamen Tod eines siebten Wolfs kommt aus Ostbayern. Am 7. Dezember 1994 entdecken zwei Beamten des Bundesgrenzschutzes unweit der tschechischen Grenze zwischen Bayerisch Eisenstein und Zwiesel ein Tier, das sie für eine streunenden Schäferhund halten. Der große kräftige Schäfermischling, der auf der Straße trottet, kommt den Grenzschützern merkwürdig desorientiert und verwirrt vor. Gefahr in Verzug! Das Tier – womöglich tollwütig – könnte ja eine Menschen beißen! Um die Autofahrer zu warnen, schalten sie Blaulicht ein und nehmen die Verfolgung auf. Zusätzlich verständigen sie über Funk das für den Jagdschutz zuständige Forstamt. Auch in der Dienststelle der Grenzschützer wird dieser Funkspruch gehört. Und weil dort der Verdacht aufkommt, dass der Hund ein Wolf sein könnte, rückt Verstärkung aus. Ob sie den beiden Wolfsjägern beistehen oder von der Verfolgung und Tötung einer besonders geschützten Tierart abhalten wollte, bleibt offen. Es spielt auch keine Rolle mehr, denn bei ihrem Eintreffen ist das Tier bereits tot. Nervös geworden, hatte es versucht seine Verfolger abzuschütteln und war in den nahen Wald geflohen.
Die Grenzschützer – inzwischen zu Fuß und mit gezogener Waffe – immer hinterher. Kurz vor dem Ziel mussten sie dann mitansehen, wie sich das Tier in selbstmörderischer Absicht vor einen heranbrausenden Zug warf und überrollt wurde. Es habe noch gelebt, den Kopf gehoben und seine Verfolger angeknurrt.
Dafür bekam es den Gnadenschuss.

Der erst nachträglich hinzugezogene Experte aus dem nahen Nationalpark Bayerischer Wald bestimmte den „Hund“ als etwa zwei – bis dreijährigen echten Wolf, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in freier Wildbahn gelebt  und sich zuletzt von Abfällen ernährt hatte. Vermutlich war der junge Rüde auf der Suche nach einem neuen Lebensraum von Tschechien nach Bayern übergewechselt. Er hatte keine Chance. Genauso wenig wie der junge, 39-Kilo-schwere Wolfsrüde, der im Januar 1999 anlässlich einer Gesellschaftsjagd im Uecker-Randow-Kreis in Mecklenburg-Vorpommern von einem passionierten Jäger getötet wurde. Hier, wie in allen anderen Fällen auch, war der Schuss auf diese nach dem Gesetz besonders geschützte Tierart illegal.