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Das
Büßergewand
Das
sogenannte Büßergewand ist eine moderne Variante des Sündenbocks,
auf den die gesamte Schuld und alles, was damit zusammenhängt, abgeladen
wird.
In meiner Praxis greife ich hin und wieder zu diesem Hilfsmittel: Man besorgt
sich einen bodenlangen Mantel oder ein Kleid und malt, schreibt, heftet,
näht, stickt symbolische Zeichen für sämtliche Gemeinheiten
darauf, die einem je im Leben zu schaffen gemacht haben.
All die unvergessenen Beleidigungen, Verletzungen, Schandtaten und Narben
kommen auf das Gewand, auf daß sie für immer darauf haftenbleiben
und »Buße tun«. |
Manche
Frauen stellen ihr Büßergewand in ein, zwei Tagen fertig, andere
brauchen Monate. Es ist enorm hilfreich und erlösend, wenn man alle
Verletzungen, die man erfahren hat, auf einen willigen Gegenstand abladen
kann.
Das Ganze fing damit an, daß ich mir selbst einmal ein hochinteressantes,
grellbuntes Büßergewand machte. Die Schleppe des zu dem Zweck
auserkorenen Mantels war bald mit dermaßen viel Klüngel behaftet,
daß drei oder mehr Grazien sie hinter mir hertragen mußten.
Ich ging davon aus, daß ich einen beträchtlichen psychischen
Abfallhaufen auf diese Weise loswerden und den Mantel zum Schluß
zeremoniell verbrennen würde.
Aber, was soll ich sagen?
Der Mantel hing wie eine schaurig-schöne Trophäe in meinem Flur,
und wenn ich daran vorbeiging, fühlte ich mich nicht etwa unangenehm
berührt, sondern ermuntert und froh.
Ich war stolz auf mich, daß ich all die hier verewigte Schmach und
Schande ertragen hatte, und dennoch »auf allen vieren stand und
neuen Entdeckungen immer noch schwanzwedelnd entgegenblickte«.
Den Frauen in meiner Praxis ging es genauso. Keine hat ihr Büßergewand
bis heute eingeäschert.
Im Gegenteil, der Sündenbock wird in all seiner Schaurigkeit an einem
prominenten Platz ausgestellt, wie die prächtigen Rüstungen
von Samurais auf dem Flughafen von Los Angeles.
Wir nennen das Büßergewand oft auch »unsere Kriegsrüstung«,
weil es von unserer Ausdauer und Kraft angesichts so vieler Niederlagen,
Ablenkungsversuche und Kampfverletzungen berichtet.
Außerdem zählen wir unser Alter nicht länger in Jahren,
sondern in Kampfnarben.
Wenn die Leute mich fragen, wie alt ich bin, dann sage ich: »Siebzehn
Kampfnarben alt.« Gewöhnlich stoße ich auf sofortiges
Verständnis; die Leute fangen an, ihre eigenen Narben an den Fingern
abzuzählen, um mir ihr derzeitiges Alter mitteilen zu können.
Die Lakota-Indianer malen die einschneidenden Erlebnisse ihres Stammes
auf Tierhäute; die Ägypter benutzten Hieroglyphen, um von ihren
Triumphen und Niederlagen zu erzählen.
Manche Frauen von heute hinterlassen ein Büßergewand, eine
buntbestickte Kriegsrüstung, an deren Sinn und Ursprung die Archäologen
der Zukunft herumrätseln können.
Apropos Ursprung: Falls jemand uns die Frage stellt, welcher Nation oder
welchem Volksstamm wir angehören, lächeln wir nur noch rätselhaft
und antworten: »Ich bin ein Mitglied des Narbenklans.«
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