Mondsicht
Die
Wolken trollen sich, die Winde werden weich und warm.
Sanft schimmert ihr Licht, während in einer Welt aus lauter Blumen
die volle Mondin im Stier die Himmel umsegelt.
Im Norden füllen die letzten Obstbäume die Luft mit ihrem weichen
Duft.
In den Wäldern verstreuten Schlüsselblumen blasses Gold
unter den Bäumen und die Hecken sind voll von Weißdornblüten,
Senf und Sumpfdotterblumen, Glockenblumen und Lupinen füllen die
Wiesen.
Weiße Blüten gibt es, Blüten in jeder Schattierung von
Gelb, Violett und tiefem Blau, eine Farbflut, die sich nordwärts
in der frühlilingswarmen Erde ausbreitet. Nun schlagen die Bäume
mit all ihrer Kraft aus,
die Burschen und Mädchen gehen in die Wälder und legen sich
ins grüne Gras, um den Mai zu bringen.
Die ganze Welt ist verliebt und gesegnet durch die lächelnde Blumenmondin.
Die
Göttin spricht
Hathor

Kehre
zurück, o Glorreiche, die ich einst im Kreis der Frauen anbetete!
Ich bin Hathor, die Uralte, die geflügelte Kuhgöttin. Ich trage
die Hörner der Mondin und den Sonnenkreis.
Meine sachten Strahlen grasen auf meiner geliebten Erde. Ich hüte
meine heiligen Kühe, weil sie die Menschen erhalten und nähren.
Meine Milch ist Nahrung für die Jungen. Meine Haut ist ihr Schutz.
Und ich habe viel Zeit zum Spielen. Erinnerst du dich, wie wir bei den
Gelagen in Dendera getanzt haben? Wir tranken Wein auf Hathors berauschenden
Festen. Wir sangen viele Lieder am Neujahrsabend und unsere Leidenschaft
brach aus wie ein Vulkan. Vermißt du nicht die ganznächtlichen
Gelage, wo wir zu Tausenden in heiliger Ekstase miteinander tanzten, Junge
und Alte? Ah, doch ich will dich auch an meine ernste Seite erinnern.
Ich bin der Geist, der dich dazu anleitete, die ersten Worte auf das Papier
aus Papyrus, meiner heiligen Blume, zu schreiben. Ich war es, die dich
antrieb, Musik und Dichtung zu erfinden, den Tanz und die Künste.
Ich bin die Schöpferin der Kultur, die Erbauerin der Gemeinden, die
Göttin der Feste. Ich bin die himmlische Beschützerin aller
körperlichen Freuden, Musik für die Ohren. Schönheit und
Verkleidungen, Schminke, Kränze um den Kopf geflochten, alles, was
das Auge erfreut. Die Freuden der Berührung, des Tanzes, der Liebe
entzücken mich. Zu gegebener Zeit schenke ich dir Wohlstand, bereichere
ich dich durch häusliches Leben, Kinder und gute Gesellschaft. Ich
lasse deine Ernte hoch sprießen, deine Obstbäume reiche Frucht.
tragen. Ich verweile bei der Katze, die abends schnurrend auf deinem Schoß
liegt.
Aber ich habe auch eine dunkle Seite und die gutmütige Natur der
heiligen geflügelten Kuh wandelt sich zum rasenden Stier, wenn ich
verärgert bin. Es ist bekannt, daß ich im Blut der Männer
gewatet bin, die sich an Frauen vergangen hatten. Ich bin bekannt dafür,
daß ich das Blut aus ihren Schädeln trinke und diejenigen zermalme,
die Frauen oder Kinder mißbraucht oder ermordet haben - und diese
Seite von mir schläft nicht mehr. Ruf
mich um Hilfe an, wenn du in Schwierigkeiten bist, wenn sich männliche
Aggression gegen dich und die deinen gewandt hat und ich, Hathor, werde
mich daraufhin erheben und deine Flüche erfüllen, deine Wut
vollstrecken.
Ich bin die blutige Göttin, wenn ich zu deiner Verteidigung aufstehe.
Ich bin das Entsetzen für Männer, die Frauen hassen oder schlagen.
Zeige deine Macht durch mich, verlange nach meiner Hilfe, und ich werde
für dich da sein mit meinem langen Arm, der Macht des Schicksals,
und auch die unmittelbare Vergeltung liegt in meiner Hand.
Vertrau mir und vertraue dir selbst. Wisse dies und weide dich an meiner
Nähe. Die weiße Stiermondin ist über dir, durchsegelt
den dunklen Himmel. Nur die Sterne sind meine Gefährtinnen. Sie tanzen
in den Sphären. Ihr teuren Seelen, meine Töchter, meine Söhne,
seid spielerisch und liebt euch, denn dadurch dient ihr mir.
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