Die
Göttin spricht
Frau
Holle
Es war einmal, da lebte in einem Wald in Deutschland, weitab von allen
Dörfern, eine alte Frau, die hieß Frau Holle. Sie war immer
in Schwarz gekleidet, weil sie eine Witwe und das so Sitte war. Sie lebte
alleine und hatte Tiere zur Dienerschaft. Die Leute sagten, daß
die Katze ihr Haus putzte und der Hund für sie jagte, damit sie zu
essen hatte. Sogar im tiefsten Winter grünte ihr Garten. Die Luft
duftete nach ihrem frischen Backwerk und das Auge konnte sich an den wunderschönen
Stoffen, die sie auf ihrem Webstuhl gewoben hatte, erfreuen. Die Dörfler
verstanden sie nicht, aber respektierten sie und akzeptierten die Tatsache,
daß sie ungewöhnlich war. Der Priester sagte, sie sei eine
Hexe und erlaubte ihr nicht, die Kirche zu betreten. Frau Holle kümmerte
das nicht.
Sie pflegte zusagen: »Gott ist ohnehin nicht in diesem Gebäude.«
Gott lebt in den Bäumen des Waldes und in den heiligen Pilzen, die
sie zu sich nahm, wenn sie Nachtwache wegen einer Heilzeremonie hielt.
Bei Tageslicht mieden sie die Leute, aber im Schutze der tiefen Dunkelheit
kamen die Menschen von nah und fern, um sie aufzusuchen. Sogar der Priester
der neuen Religion schickte seine Haushälterin um Medizin für
seine wunden Gelenke. Die Hebammen kamen um Kräuter zu ihr, die die
Schmerzen der Wehen lindern und hilfreich sein sollten, die Nachgeburt
herauszutreiben.
Junge Mädchen suchten sie wegen Liebestränken auf und junge
Burschen erbaten Kräuter, die ihre Lebenskraft stärken sollten.
Für alle Übel kannte sie ein Heilmittel.
Nach einiger Zeit verschwand Frau Holle. Aber die Leute munkelten, daß
sie nicht wirklich gestorben sei. Sie ritt auf den Flügeln des Windes
und schüttelte Federn aus Schneeflocken aus. Man hörte sie auf
den Giebeln der Dächer singen und nachts kitzelte sie so zum Spaß
die Zehen der Schläfer. Manche sagen, daß sie das noch heute
tut.
Frau Holle spricht in den stillen Quellwässern und den kalten Tiefen
der Seen kannst du mich finden. Komm, spring hinein und sieh selbst! Du
wirst nicht sterben.
Der tiefe, kühle Brunnen, der dein Gesicht wie ein Spiegel zurückwirft,
wird dir den Weg zu meinem Haus weisen. Wenn du es wagst, mir in die Tiefen
der Erde hinein zu folgen, wirst du trotz der Kälte der Welt dort
Sonnenschein finden. Meine Öfen, die wie Schöße geformt
sind, backen frisches Brot, machen neue Körper für die Seelen.
Wunderbare Früchte tragen meine Apfelbäume. Die Lebenskraft
meiner Fülle ist dein, wenn du sie erntest. Ich arbeite schwer, um
meinen Kindern Glück zu schenken. Wenn du für mich arbeitest,
um meine Aufgaben zu erfüllen, und die Verantwortung, die ich dir
bringe, annimmst, wenn du die frischen Brote den heißen Öfen
entnimmst und die Äpfel von meinen Bäumen pflückst, so
nimm die Macht an, die ich dir schenke; als meine Gehilfin werde ich dich
einstellen. Wenn du meine Polster ausschüttelst, werden die fliegenden
Federn die Erde mit weißem Schnee bekleiden. Wenn du meine heiligen
Pflanzen gießt, wird das den segenspendenden Regen erschaffen, der
nötig ist, um das Leben in der Oberwelt zu erhalten. Siehe, ich bin
ganz Arbeit. Ich bin alles Emsige, alles Nützliche. Zur Vollmondin
werde ich kommen und dein Lebenswerk betrachten. Was hast du aus den feinen
Fäden, die ich dir gegeben habe, gewoben? Im Licht der Vollmondin
werde ich deine Beziehungen untersuchen und was du erreicht hast. Ich
werde mich in deinem Haus umsehen, wie aufgeräumt es ist und wie
ordentlich dein Webstuhl.
Finde ich dein Werk in anregender Ordnung vor, so werde ich dir Gold bringen,
weil meine Schritte sich in Gold verwandeln und alles, was meine Fingerspitzen
berühren, wird zu Silber. Wenn dein Leben ein einziges Durcheinander
ist, wenn ich vorbeikomme, bringe ich es vielleicht sogar noch mehr in
Unordnung, nur um dich aus deinen alten Bahnen zu werfen. Die strebsame,
gewissenhafte Mutter bin ich, die Mutter, die arbeitet und deine Hilfe
braucht. Meine Sphären sind die tiefen Wasser in der Erde, die tiefen,
unbewußten Räume in deiner Seele und die hohen Berge auf Erden.
Alle magischen Geschöpfe gehorchen mir, aber die Wassernymphen sind
meine Lieblingstöchter. Ich bin diejenige, die dir deine eigenen
Gefühle zeigen, dich den Ergebnissen gegenüberstellen und dich
belohnen oder bestrafen kann. Ich bin die Feengroßmutter, meine
heilige Pflanze ist der weiße Holler, der Holunder, der vom Frühling
bis in den Herbst hineinblüht. Damit heile ich von aller Krankheit;
das ist mein magischer Stab. Durch harte Arbeit kannst du mich finden,
durch harte Arbeit nehme ich Gestalt an für dich und belohne dich.
Frau Holle flößt dir große Mengen an schöpferischer
Energie ein, den Ehrgeiz, dir weitere Fertigkeiten und Informationen zu
erwerben. Ich verleihe dir die Fähigkeit, spirituelle Werte in die
praktische Anwendung umzusetzen und dein eigenes Leben und das deiner
Gemeinschaft zu schützen und zu erhalten. Auch in späteren Jahren
noch schenke ich dir Jugendlichkeit und die Neugier, neue Ideen und Handlungsweisen
zu entdecken und anzuwenden. Meine Äpfel zu pflegen sei eine so bescheidene
Aufgabe, sagst du.
Aber meine Äpfel sind deine Sexualität, deine Fruchtbarkeit,
deine Erhaltung. Mein Ofen ist der Kessel der Schöpfung, in dem neue
Formen Leben annehmen. Meine Polster zu schütteln, ruft die Jahreszeit
des Wandels herbei; deine Mithilfe bedeutet, daß du an der göttlichen
Schöpfung teilhast.
Bereichert und gereift durch meine Gaben wirst du sein, wenn ich dich
in deine eigene, die Oberwelt, entlasse.
Der heilige weiße Holunder wird dich an meine Gegenwart erinnern.
Sei jetzt freundlich zu den alten und bedürftigen Menschen, es könnte
sein, daß ich darunter bin, verkleidet, um dich herauszufinden.
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