Mondsicht

Die Kalte Mondin des Steinbocks gleitet über den südlichen Himmel.
Auf Felder, die weiß von Schnee sind oder kahle und braune,
scheint ihr reines Licht, auf Gewässer,
die sich vor Kälte nur langsam bewegen oder sich unter einer Eisdecke verstecken.
Die Geheimnisse der Winterzeit sind wohl gehütet,
aber die Kalte Mondin kennt sie alle.

Diese Starre ist nicht der Tod, sondern der Schlaf,
in dem die Welt sich selbst in der Erwartung des Frühlings erneuert.
Die Kalte Mondin weiß,
wo jedes geheime Samenkorn schlummert.

Darin besteht ihre Weisheit.

Die Göttin spricht

Frau Holle
Es war einmal, da lebte in einem Wald in Deutschland, weitab von allen Dörfern, eine alte Frau, die hieß Frau Holle. Sie war immer in Schwarz gekleidet, weil sie eine Witwe und das so Sitte war. Sie lebte alleine und hatte Tiere zur Dienerschaft. Die Leute sagten, daß die Katze ihr Haus putzte und der Hund für sie jagte, damit sie zu essen hatte. Sogar im tiefsten Winter grünte ihr Garten. Die Luft duftete nach ihrem frischen Backwerk und das Auge konnte sich an den wunderschönen Stoffen, die sie auf ihrem Webstuhl gewoben hatte, erfreuen. Die Dörfler verstanden sie nicht, aber respektierten sie und akzeptierten die Tatsache, daß sie ungewöhnlich war. Der Priester sagte, sie sei eine Hexe und erlaubte ihr nicht, die Kirche zu betreten. Frau Holle kümmerte das nicht.
Sie pflegte zusagen: »Gott ist ohnehin nicht in diesem Gebäude.«
Gott lebt in den Bäumen des Waldes und in den heiligen Pilzen, die sie zu sich nahm, wenn sie Nachtwache wegen einer Heilzeremonie hielt. Bei Tageslicht mieden sie die Leute, aber im Schutze der tiefen Dunkelheit kamen die Menschen von nah und fern, um sie aufzusuchen. Sogar der Priester der neuen Religion schickte seine Haushälterin um Medizin für seine wunden Gelenke. Die Hebammen kamen um Kräuter zu ihr, die die Schmerzen der Wehen lindern und hilfreich sein sollten, die Nachgeburt herauszutreiben.
Junge Mädchen suchten sie wegen Liebestränken auf und junge Burschen erbaten Kräuter, die ihre Lebenskraft stärken sollten. Für alle Übel kannte sie ein Heilmittel.
Nach einiger Zeit verschwand Frau Holle. Aber die Leute munkelten, daß sie nicht wirklich gestorben sei. Sie ritt auf den Flügeln des Windes und schüttelte Federn aus Schneeflocken aus. Man hörte sie auf den Giebeln der Dächer singen und nachts kitzelte sie so zum Spaß die Zehen der Schläfer. Manche sagen, daß sie das noch heute tut.
Frau Holle spricht in den stillen Quellwässern und den kalten Tiefen der Seen kannst du mich finden. Komm, spring hinein und sieh selbst! Du wirst nicht sterben.
Der tiefe, kühle Brunnen, der dein Gesicht wie ein Spiegel zurückwirft, wird dir den Weg zu meinem Haus weisen. Wenn du es wagst, mir in die Tiefen der Erde hinein zu folgen, wirst du trotz der Kälte der Welt dort Sonnenschein finden. Meine Öfen, die wie Schöße geformt sind, backen frisches Brot, machen neue Körper für die Seelen.
Wunderbare Früchte tragen meine Apfelbäume. Die Lebenskraft meiner Fülle ist dein, wenn du sie erntest. Ich arbeite schwer, um meinen Kindern Glück zu schenken. Wenn du für mich arbeitest, um meine Aufgaben zu erfüllen, und die Verantwortung, die ich dir bringe, annimmst, wenn du die frischen Brote den heißen Öfen entnimmst und die Äpfel von meinen Bäumen pflückst, so nimm die Macht an, die ich dir schenke; als meine Gehilfin werde ich dich einstellen. Wenn du meine Polster ausschüttelst, werden die fliegenden Federn die Erde mit weißem Schnee bekleiden. Wenn du meine heiligen Pflanzen gießt, wird das den segenspendenden Regen erschaffen, der nötig ist, um das Leben in der Oberwelt zu erhalten. Siehe, ich bin ganz Arbeit. Ich bin alles Emsige, alles Nützliche. Zur Vollmondin werde ich kommen und dein Lebenswerk betrachten. Was hast du aus den feinen Fäden, die ich dir gegeben habe, gewoben? Im Licht der Vollmondin werde ich deine Beziehungen untersuchen und was du erreicht hast. Ich werde mich in deinem Haus umsehen, wie aufgeräumt es ist und wie ordentlich dein Webstuhl.

Finde ich dein Werk in anregender Ordnung vor, so werde ich dir Gold bringen, weil meine Schritte sich in Gold verwandeln und alles, was meine Fingerspitzen berühren, wird zu Silber. Wenn dein Leben ein einziges Durcheinander ist, wenn ich vorbeikomme, bringe ich es vielleicht sogar noch mehr in Unordnung, nur um dich aus deinen alten Bahnen zu werfen. Die strebsame, gewissenhafte Mutter bin ich, die Mutter, die arbeitet und deine Hilfe braucht. Meine Sphären sind die tiefen Wasser in der Erde, die tiefen, unbewußten Räume in deiner Seele und die hohen Berge auf Erden. Alle magischen Geschöpfe gehorchen mir, aber die Wassernymphen sind meine Lieblingstöchter. Ich bin diejenige, die dir deine eigenen Gefühle zeigen, dich den Ergebnissen gegenüberstellen und dich belohnen oder bestrafen kann. Ich bin die Feengroßmutter, meine heilige Pflanze ist der weiße Holler, der Holunder, der vom Frühling bis in den Herbst hineinblüht. Damit heile ich von aller Krankheit; das ist mein magischer Stab. Durch harte Arbeit kannst du mich finden, durch harte Arbeit nehme ich Gestalt an für dich und belohne dich.

Frau Holle flößt dir große Mengen an schöpferischer Energie ein, den Ehrgeiz, dir weitere Fertigkeiten und Informationen zu erwerben. Ich verleihe dir die Fähigkeit, spirituelle Werte in die praktische Anwendung umzusetzen und dein eigenes Leben und das deiner Gemeinschaft zu schützen und zu erhalten. Auch in späteren Jahren noch schenke ich dir Jugendlichkeit und die Neugier, neue Ideen und Handlungsweisen zu entdecken und anzuwenden. Meine Äpfel zu pflegen sei eine so bescheidene Aufgabe, sagst du.
Aber meine Äpfel sind deine Sexualität, deine Fruchtbarkeit, deine Erhaltung. Mein Ofen ist der Kessel der Schöpfung, in dem neue Formen Leben annehmen. Meine Polster zu schütteln, ruft die Jahreszeit des Wandels herbei; deine Mithilfe bedeutet, daß du an der göttlichen Schöpfung teilhast.

Bereichert und gereift durch meine Gaben wirst du sein, wenn ich dich in deine eigene, die Oberwelt, entlasse.
Der heilige weiße Holunder wird dich an meine Gegenwart erinnern.
Sei jetzt freundlich zu den alten und bedürftigen Menschen, es könnte sein, daß ich darunter bin, verkleidet, um dich herauszufinden.