Gesellschaftliche und soziale Fragen der Suchtkrankheit

Jeder Kulturkreis hat seine spezifischen Suchtmittel und Suchterkrankungen.
Asien: Opium; Afrika: Betel; Amerika: Tabak, Mescalin; Europa: Alkohol.

Die jeweiligen Suchtmittel eines Kulturkreises sind fest verwoben mit religiösen oder gesellschaftlichen Bräuchen, so daß ein lebensgefährlicher Mißbrauch kaum
aufkommen kann.

Nur wo die Bräuche verlorengegangen sind, kann der Rauschmittelkonsum
zur Krankheit im eigentlichen Sinne werden: Isoliert von der Gesellschaft und ihren Inhalten wird der Rauschmittelkonsum zum Ersatz für gesellschaftliches Leben und deshalb zur Sucht.

In unserer Gesellschaft, in der wir eine zunehmende Vermischung der Kulturen
feststellen können, ergab sich in neuerer Zeit eine parallel laufende Vermischung der Rauschmittel.

Canabis, Opium, Kokain oder Mescalin werden heute in den Kreisen jugendlicher Rauschmittelabhängiger ganz selbstverständlich neben unserer eigenen ,,Kulturdroge" Alkohol verwendet.

Der Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft nimmt bei verschiedenen Gruppen verschiedene Formen an.

In der Oberschicht sind gesellschaftliche Rituale feststellbar (Cocktailparties, politische Empfänge), die ohne Alkohol gar nicht denkbar sind.

In der Unterschicht sind es eher die Lokale, in denen Rauschexzesse stattfinden.

Beiden Schichten gemeinsam ist, daß sie ihren Alkoholkonsum überwiegend in Gesellschaft vollziehen.

Bei einer Gruppierung in Männer, Frauen, Jugendlichen-Alkoholismus wird aber
schnell ein anderes Bild sichtbar:

Der Alkoholkonsum ist nur insofern gesellschaftsgebunden, als die Menschen,
die Alkohol trinken, schon irgendwie in der Gesellschaft tätig sind.
Hausfrauen, isolierte Jugendliche, kontaktschwache Menschen schlechthin trinken auch alleine.

Im Grunde aber ist jede Form von Rauschmittelmißbrauch verbunden mit einer tiefen Sehnsucht nach sozialem Eingebundensein.

Die Sucht ist ein historisches Phänomen und hat einen politischen Hintergrund.

Ende des 19. Jahrhunderts war der Elendsalkoholismus eines der brennendsten
gesellschaftlichen Probleme. In den 50-er Jahren unseres Jahrhunderts sprach man vom Wohlstandsalkoholismus; heute können wir von einem allgemeinen Alkoholismus sprechen.

Der Beginn des Drogenmißbrauchs in größerem Stil läßt sich auf das Ende der
Jugend und Studentenrevolte im Sommer 1969 festlegen.

Der politische Protest der Jugend schlug um:
Aus der politischen Aktion wurde die "Reise nach innen".

Die zunehmende Kriminalisierung der jugendlichen Rauschmittelkonsumenten bewirkte ein Doppeltes: Der harte Kern der jugendlichen Gefährdeten glich sich der kriminellen Umgebung an, die schwankende Umgebung des harten Kerns wechselte zurück zur Staatsdroge Alkohol.

Der Suchtkranke befindet sich in einem Widerstreit zwischen Sehnsucht nach sozialer Anerkennung und Ächtung durch eben diese Gesellschaft.
Mit einem Bild aus der Bibel: "Der Suchtkranke ist der Aussätzige unserer Tage".

Alkohol zu konsumieren ist heute allgemeine Gewohnheit, Attitüde geworden.
Wer nicht mittrinkt, schließt sich aus.

Wer bei diesem Spiel mit dem Feuer selbst anfängt zu brennen (Kontrollverlust),
wird verachtet. D. h., die Gesellschaft verdrängt ihr Schuldbewußtsein und projiziert ihr schlechtes Gewissen auf den Suchtkranken:

Dieser soll nun willensschwach, hemmungslos, asozial sein.

Die Nicht-Suchtkranken behalten ihre ,,weiße Weste".

Es wird klar, daß ein Großteil der Ursachen des Alkoholismus in den Strukturen
unserer Gesellschaft liegt.
Wo das Wissen um einen Sinn des Zusammenlebens verlorengegangen ist, wo das Weltbild und die Weltanschauung ohne das auszukommen hat, ,,was die Welt im Innersten zusammenhält", bietet sich der Rausch an als "Alleskleber".

Sozial gesehen ist die Suchtkrankheit also eine ,,Beziehungskrankheit", d. h.
der Suchtkranke ist in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen ernsthaft gefährdet.

Eine sinnvolle Suchttherapie kann deshalb als Ziel gar nie die bloße Abstinenz haben.

Ziel ist vielmehr der ,,heile Mensch", der in wirklichen Beziehungen den Sinn seines Daseins erleben kann.

die blaue Mondin - von Z. - Gesellschaftliche und soziale Fragen der Suchtkrankheit ------ Ursprung und Wandel