Wolf und Mensch



Eine lange Geschichte

von Freundschaft und Feindschaft
Von Dr. Erik Zimen (leider verstorben)
Unter den Tieren ist der Wolf eine Ausnahmeerscheinung. Abgesehen vom Menschen hat kein Säugetier eine größere natürliche Verbreitung. Von der hohen Tundra im Norden bis in den Regenwald des Südens, im Hochgebirge wie in der Steppe, in den letzten Wildnisregionen unserer Erde wie auch in unmittelbarer Nachbarschaft zum Menschen — überall kommt er zurecht, als Großwildjäger oder Müllverwerter, als Einzelgänger ebenso gut wie im großen Rudel. Seine Anpassungsfähigkeit steht nur der des Menschen nach, hinsichtlich seiner innerartlichen Variation übertrifft er diesen sogar. Es gib rein weiße und völlig schwarze Wölfe, rotbraune und eben auch die grauen bei uns. Es gibt Wölfe, die ausgewachsen keine 20 kg wiegen und andere, weiter nördlich, die viermal so schwer sind.

In der Tat, kein Tier steht in Bezug auf Ernährungs- und Lebensweise dem Menschen näher.
Als opportunistischer Jäger besetzt der Wolf die gleiche ökologische Nische - wie einst unsere steinzeitlichen Vorfahren. Wie diese lebt er bevorzugt in der Großfamilie mit mehreren Generationen zusammen. Und ebenso verteidigt auch er sein Revier gegen fremde Eindringlinge.

So lebten beide Jäger über lange Zeit neben- und wohl z.T. auch voneinander. Die Wölfe plünderten regelmäßig die Abfallhaufen der Menschen und hielten deren Lager dadurch sauber. Und umgekehrt konnten die Menschen sicher manch einmal den Wölfen ihre Beute abtrotzen und so Nahrungsengpässe überstehen. Ein Bündnis auf Gegenseitigkeit, wenn auch der Dominantere von beiden damals schon feststand - der Mensch.

Zum Ende der letzten Eiszeit, vor ungefähr fünfzehntausend Jahren, bekam diese lockere Verbundenheit zwischen Mensch und Wolf auf einmal eine neue Dimension. Irgendwer begann kleine Wolfswelpen aufzuziehen. Vermutlich war es eine Frau, denn nur sie verfügte damals über die für die Welpen lebensnotwendige Milch. Andere Haustiere gab es noch nicht. So legte sie die Welpen an ihre Brust, zähmte sie und ließ sie danach in ihrer Hütte zusammen mit ihren eigenen Kindern aufwachsen. Aus dem wilden Wolf wurde der Hauswolf und aus diesem viele Generationen später unser erstes Haustier - der Hund.

Damit begann eine lange und erfolgreiche Freundschaft. Bald jagten sie auch gemeinsam, und zwar so geschickt, daß viele Wildtierarten immer seltener wurden. Auf der Suche nach neuen Jagdgründen drangen sie gemeinsam auf neue Kontinente und in immer entferntere Regionen der Erde vor und besiedelten zu Ende der Eiszeit schließlich nahezu die ganze Erde.

Bis auf wenige Ausnahmen gab es seitdem keine menschliche Kultur ohne Hunde. Ja mehr noch, mit dem Hund als Vorbild wurden vielerorts neue Haustiere domestiziert und damit die größte Kulturrevolution aller Zeiten eingeleitet: die Weiterentwicklung des Menschen vom Jäger und Sammler zum Bauern und Hirten.

Ob dieser folgenschwere Entwicklungsschritt am Ende für Hund und Mensch gut war, wird erst die Zukunft erweisen. Für den dritten im Bunde jedoch, für den wild gebliebenen Wolf, waren die Folgen fatal. Denn er wurde jetzt zum Konkurrenten für Jäger und Hund um schwindende Beute und zudem für den Bauern und Hirten zum schlimmsten Feind.

Trotzdem dauerte es noch viele Jahrtausende, bis dem Wolf das ganz und gar negative Erscheinungsbild zugesprochen wurde, wie wir es heute kennen, bis zum Verführer kleiner Mädchen mit rotem Käppchen, zum gefräßigen Wüstling, zur gefährlichen Bestie. Bei vielen nordamerikanischen Indianerstämmen galt er als Symbol der Schöpfung und der ethnischen Identität. Auch Dschingis-Chan soll nach der "geheimen Geschichte der Mongolen" von einem Wolf abstammen sein. In der Mythologie der Germanen begleiteten zwei Wölfe Odin, den höchsten Gott und schützten ihn vor allen Gefahren. Und das alte Rom schließlich wurde der Sage nach von Romolus und Remus gegründet, die ihr Leben einer Wölfin verdanken. So gilt in Italien bis zum heutigen Tag die Wölfin als Symbol mütterlicher Liebe und Aufopferung.

Zum Symbol des Bösen wurde der Wolf bei uns erst zu Beginn des Mittelalters. So forderte Karl der Große von seinen Rittern nicht nur den bedingungslosen Kampf gegen die heidnischen Sachsen, sondern auch gegen den Wolf. Und dieser Krieg dauerte länger als der zur Einigung des Reiches. So geht die heute noch bestehende Louveterie in Frankreich auf die vor mehr als tausend Jahren eingeführten Wolfsjäger des Kaisers zurück. Heute haben sie, nach ihrem totalen Sieg über den Wolf, naturgemäß andere Aufgaben übernommen. Doch damals galt es, Wild und Haustiere gegen die Wölfe zu schützen. Denn mit der zunehmenden Entwaldung Mitteleuropas und dem enormen Jagddruck des Adels auf das Wild blieb den Wölfen nichts anderes übrig, als sich an den wenigen Haustieren der Bauern schadlos zu halten.

Wenn auch das Problem vom Menschen selbstverschuldet war, der Ha8 und die Angst der Menschen vor dem Wolf der damaligen Zeit sind verständlich. Es ging um die Existenzgrundlage ganzer Familien, wenn Wölfe wieder einmal  in Stall und Weiden eindrangen. Und sicher haben sie dabei nicht immer nur Haustiere gerissen, sondern auch mal ein Kind mit in den Wald geschleppt.

Doch nicht einmal in dieser Zeit war das Bild vom Wolf einheitlich schlecht. In unzähligen Fabeln galt Isegrim vielmehr als tölpelhafter Trottel, der immer wieder von dem kleineren aber so viel schlaueren Reineke überlistet wurde. Erst Jahrhunderte später wurde er zum wirklichen Handlanger des Teufels, zur Inkarnation des Bösen schlechthin. Es war die unruhige Zeit der Reformation und der Gegenreformation, langer Kriege und vielen Elendes auf dem Lande, als unzählige Frauen der vermeintlichen Hexerei beschuldigt wurden und auch sehr viele Männer als überführte Werwölfe ihr Leben auf dem Scheiterhaufen lassen mußten. Wie immer hat man es auch damals verstanden, unliebsame Randgruppen für die Probleme der Zeit verantwortlich zu machen. Und zu diesen Randgruppen gehörten, nach mehr als tausendjähriger Verfolgung, inzwischen auch die Wölfe. Mitte letzten Jahrhunderts waren sie dann aus Mitteleuropa praktisch verschwunden.

So widerspiegelt unsere Einstellung zum Wolf unsere Beziehung zur Natur allgemein, die wiederum im wesentlichen durch den Entwicklungsstand unserer Natur beherrscht wird. Deshalb mag es nicht verwundern, daß das Wolfsbild sich in letzter Zeit wieder langsam wandelt. Schon bei Jack London ist der Wolf nicht mehr der rohe Bösewicht der Vergangenheit, sondern König der uns noch verbliebenen Natur weit entfernter nördlicher Wälder. Es war eben die Zeit frühkapitalistischer Ausbeutung und Machtentfaltung als, frei nach Charles Darwin, das Recht des Stärkeren propagiert wurde. Und so verwundert es auch nicht, daß ebenfalls die Nazis den Wolf in ihrem Sinne mißdeuteten und dem (Rudel-) Führer zusprachen. Und ebenso folgerichtig ist in unserer Zeit wahrlich bedrohlicher Naturzerstörung die neuerliche Wolfsromantik. Der Wolf ist heute "in". Insbesondere in der Mittelschicht der eingeengten städtischen Grüngürtel. Hier kommt eine diffuse Sehnsucht nach unberührter Wildnis zum tragen, die Abkehr vom tristen Alltag mit all seinen Beweisen für die Unzulänglichkeit des Menschen. Nur an seinen Wurzeln, in der Natur, sei der Mensch gut. Und an diesen Wurzeln steht eben auch der Wolf — nicht ganz zu Unrecht, wie wir wissen.

Nach beispielloser Verfolgung ist der Wolf heute aus großen Teilen seines einstigen Verbreitungsgebietes in Nordamerika und Europa verschwunden. In den letzten Jahren aber beobachten wir eine erneute Zunahme der Wolfpopulationen in einigen seiner verbliebenen Rückzugsgebiete, und als Folge davon, eine Wiederbesiedelung der Gebiete, die bereits lange wolfsfrei waren; so in Spanien, in den nördlichen Apenninen Italiens, in den Seealpen Frankreichs, in Mittelschweden und neuerdings auch in Deutschland. Erste Wölfe siedeln bereits im Bayerisch-Böhmischen Wald und seit einigen Jahren dringen immer wieder Wölfe aus Polen über die Oder nach Brandenburg ein. Vereinzelt treten auch Wölfe in den Vogesen auf, in Österreich und in den letzten Jahren mehrmals auch in der Schweiz.

Die Ursache für diese erneute Ausbreitung des Wolfes liegt zum einen im Wandel der Land- und Waldnutzung in vielen Regionen Europas begründet, zum anderen aber auch im bereits erwähnten Wandel der Einstellung zum Wolf selbst. Diese ist eher im städtisch geprägten und ökologisch sensibilisierten Teil der Bevölkerung zu beobachten, während in ländlich-agrarisch geprägten Bevölkerungsschichten weiterhin das alte Angst-Feindbild vorherrscht. Entsprechend kontrovers und heftig sind überall die Reaktionen auf die Wiederkehr des Wolfes.

Für die einen ist der Wolf zum Hoffnungsträger für eine nicht völlig von Menschen bestimmte Umwelt geworden, zu einem Symbol für das abenteuerlich Unberechenbare in der Natur bis hin zu einer neuromantischen Zivilisationsabkehr und vermeintlich neuer Spiritualität.

Für die anderen ist seine Wiederkehr ein Rückfall in menschliche Abhängigkeit von der Natur und ihrer dunklen Kräfte, der Wolf ein Konkurrent des Menschen, Feind und Schädling seiner wirtschaftlichen Interessen.

Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung hängt nicht nur die Zukunft des Wolfes ab. Es sind wir selber, die am Scheideweg stehen.

Entweder wir akzeptieren den Wolf als einen unverzichtbaren Teil unser aller Natur, oder wir werden ihm nur um einige Jahre versetzt in den Untergang folgen.




Frau und Wolf
Auf der Suche nach einer uralten Beziehung

Von Dr. Erik Zimen


Vor zwanzig Jahren im Bayerischen Wald: Neun meiner Wölfe sind aus ihrem Gehege ausgebrochen.
Der Landrat fordert Hilfe von der Grenzpolizei. Doch die Wölfe sind scheu und die meisten bald über alle Berge. Es ist Februar, sibirisch kalt, und entsprechend groß ist daher auch das Interesse der Presse.
Zuerst berichtet man wohlwollend: "Laßt die Wölfe leben!" Doch dann taucht eine junge Wölfin, die einzige unter den Ausbrechern, die nicht in den Wäldern verschwand, in der Nähe von Kindern im Dorf auf.
Sie will offensichtlich spielen und kneift dabei einen Jungen in den Po. Sofort schlägt der Tenor um.
Jetzt ist von "Bestien" und "Ungeheuern" die Rede.
Zum Teil ist die Aufregung natürlich verständlich. Wer will schon einen Wolf auf dem Spielplatz seiner Kinder haben? Auf jeden Fall sind es jetzt Männer, die die Wölfe jagen, Jäger, die auf die Wölfe Tag und Nacht ansitzen, Piloten, die in Hubschraubern das Gebiet überfliegen, Grenzpolizisten, die in Formation die Wälder durchkämmen. Ein Jäger erlegt den zahmen Wolf, die Polizisten zwei Hunde und ein Reh. Der Landrat fordert Verstärkung von der Bundeswehr auf bayerischer und von Warschauer-Pakt-Truppen auf der böhmischen Seite. Die Stimmung ist aggressiv aktionistisch.

Nur einige Frauen scheinen noch Umsicht und Verstand zu behalten: "Nicht der Wolf ist dem Menschen gefährlich, sonder der Mensch dem Wolf", schreibt eine. Und daß die Angst vor wilden Wölfen unbegründet und damit auch unüberwindbar sei. Manchmal klingt aber auch Verwunschenes an. Viele rufen an. Eine Frau südlich von München: Ein Wolf soll vor ihrem Schlafzimmerfenster heulen. Auf meine Frage, warum sie wisse, daß es ein Wolf sei, antwortet sie: "Weil es sich so schön schaurig anhört."

Zehn Jahre später:
In Schweden sind Wölfe gesichtet worden, die ersten seit langem. Die Nation jubelt. Nur die lokale Bevölkerung wehrt sich gegen die unerwünschten Einwanderer aus dem weit entfernten Rußland. Wieder sind es die Männer, die mit Gewehren bereitstehen, um ihre Elche, ihre Schafe und auch ihre Kinder und Frauen zu schützen. Diese haben in der Tat ein wenig Angst, vor allem die Mädchen und Frauen. Die Männer selber aber haben keine, nur um ihre Kinder, um ihre Frauen.

Wieder zehn Jahre später – heute:
Auch in Deutschland werden Wölfen gesichtet. Auf einer Fahrt erkunde ich die Stimmung im Lande. Es ist wie gehabt: Begeisterung in den Städten, Angst und Ablehnung in den betroffenen Gebieten. Besonders bei den
Männern: "Weg damit", "erschießen", "kein Platz bei uns" heißt es allgemein.

Bei vielen Frauen hingegen, insbesondere bei den jüngeren, schwingen andere, tiefere Töne mit. Ihnen geht es auch um den Schutz des Schwächeren, um Natur, um ein wenig Unberechenbares in unserem Leben, um das letzte noch Wilde in unserer Zeit. Die größte Begeisterung drückt Julia, Doktorandin der Biologie, mitten in München aus. Ein wunderschönes Tier sei der Wolf, edel, sozial und so scheu. Ihn zu schützen solle Inhalt ihres Lebens werden. Rotkäppchen auf den Kopf gestellt und sehr modern.

Drei Beispiele für einen geschlechtsspezifischen Unterschied in der Bewertung einer allgemein verteufelten Tierart.

Was beim Mann Haß und Verfolgung auslöst,
löst bei der Frau zwar auch Angst aus, fasziniert aber zugleich.


Was mittels Gewehr, Falle und Gift nach Meinung des Mannes ausgerottet gehört, weckt Schutzinstinkte, Mitleid und allen voran tiefe Sehnsüchte nach verborgener Wildheit bei der Frau. Über "die Kraft der weiblichen Urinstinkte" schreibt Clarissa Estés ein ansonsten nicht gerade stimmiges Buch. Trotzdem wird es ein Bestseller. Der Titel: "Die Wolfsfrau".

Was ist es, das bei uns das eine Geschlecht zum Wolfsjäger werden laßt, das andere aber zu Rotkäppchen, Wolfsfrau oder Schwester Wolf? Was fasziniert sie so abseits der ihr gebotenen Wege an ihm - dem wilden, dem Unberechenbaren? Warum gibt sie sich gerade ihm, trotz all ihrer Angst, so leidenschaftlich hin? Zumindest in den Märchen - und in ihren Träumen. Was haben Frau und Wolf, Hexe und Hure, Räuber und Frevler gemein?

Die erste geschichtlich nachgewiesene Begegnung zwischen Wolf und Frau lag lange Zeit in einem schier unentschlüsselbaren Wirrwarr von Linien verborgen. Auf einer kleinen Schieferplatte aus einer Steinzeitsiedlung am Ufer des Rheins fand man ein wildes Durcheinander von Einritzungen. Auf anderen sah man sofort den Kopf eines Pferdes, die Umrisse eines Rentieres, Frauengestalten auch ohne Kopf und Beine, aber mit viel Busen, Bauch und Po - wohl Fruchtbarkeitssymbole.

All diese Zeichnungen in weichen Schiefer geritzt, widerspiegeln das Leben und das Wertgefüge der Menschen, die vor fünfzehntausend Jahren bei Gönnersdorf am Ufer des großen Flusses ihre Zelte aufschlugen. Es waren Jäger und Sammler. Haustiere gab es noch nicht und auch keine Kulturpflanzen, die man sähen und später ernten konnte. Man war vielmehr allein auf das angewiesen, was die Natur von sich aus an Überfluß produzierte.

Und das war nicht wenig, trotz Kälte und nahem Eis. Über die offene Tundra zogen große Renherden. Pferde und Vögel, Robben und Fische waren weitere reiche Nahrungsquellen. Beeren, Kräuter, Pilze ebenso. Im Permfrost der Böden ließen sich Nahrungsreserven lange lagern. So hatten die Menschen viel Zeit.

Sie schmückten ihre Werkzeuge und ihre Waffen aus Stein, Und sie malten die Wände ihrer Wohnhöhlen mit herrlichen Bildern aus. In Gönnersdorf befestigten sie die Wege zwischen den Zelten und die Böden in den Zelten mit Schieferplatten. Fast alle davon waren voll mit eben jenen eingeritzten Zeichnungen, in denen man die Lebenswelt von damals so schön erkennen kann.

Nur einige Platten mit allzu verwirrenden Linien blieben lange Zeit ungedeutet. Bis man Linie für Linie nachzeichnete.

Auf einer Platte kam ein Wolf zum Vorschein; ein weiteres Tier der damaligen Tundra. Also nichts besonderes. Bis man weitere Linien nachzog und drei Frauengestalten erkannte. Sie liegen quer über dem Wolf - oder er über ihnen. Wie man will.

Man könnte diese Überlagerung von mehreren Bildern, von der realistischen Abbildung eines Wolfes und von Symbolfiguren der Fruchtbarkeit als zufällig abtun. Aber es gibt weitere Verknüpfungen von Frau und Wolf/Hund aus dem gleichen Gebiet aus einer etwas späteren Zeit.

Im 14000 Jahre alten Doppelgrab von Oberkassel bei Bonn fand man Skelettreste von einem älteren Mann und einer neben ihm begrabenen jüngeren Frau. Dem Mann waren Werkzeuge und Waffen als Grabbeigabe mitgegeben. Neben der Frau aber lagen nur die Reste von einem mittelgroßen Tier. Zuerst hat man das Tier als Wolf identifiziert, später aber anhand der Zähne als Hund erkannt. Der bislang älteste Hund der Geschichte und zugleich das erste Haustier des Menschen.

Über die Entstehung des Hundes ist viel gerätselt worden. Heute weiß man, daß der Wolf und nur der Wolf Stammvater aller Hunde ist. Warum aber wurde der Wolf überhaupt gezähmt? Wer machte aus dem Konkurrenten um gleiche Beute den besten Freund des Menschen, den Hund?

Für meinen Lehrer Konrad Lorenz stand fest: Mensch und Wolf kamen als Jäger zusammen, jagten immer mehr zum Vorteil beider, um schließlich auch gemeinsam zu leben. Für andere Forscher gelten die ersten "Hauswölfe" hingegen als Ersatznahrung für schlechte Zeiten. Andere wiederum glauben, daß der Wolf in erster Linie zum Schutz des Menschen gezähmt wurde.

Alle diese Erklärungsversuche sind männerorientiert und deuten zudem die ersten Manipulationen der Natur im Interesse des Menschen als bewußte Tat einsichtiger und zukunftsorientierter Menschen. Nur vergessen sie, daß ein Mann zur damaligen Zeit einen Wolf gar nicht zähmen konnte. Nur wenn ein kleiner Welpe der Mutter weggenommen und vom Menschen aufgezogen wird, kann ein Wolf zahm und auf den Menschen geprägt werden, wird er sein Leben lang diesen seinen eigenen Artgenossen als Sozialpartner vorziehen.
Wie es die Hunde eben tun, ein Wildtier wie der Wolf aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.
Und dazu gehört insbesondere die frühe Wegnahme und die dann zwingend notwendige Fütterung mit Milch.

Milch gab es ohne Haustiere nur bei der Frau. Sie muß es also gewesen sein, die junge Welpen zu sich nahm und ihnen die Brust gab. Weil sie zuviel Milch hatte vielleicht, weil sie Mitleid hatte oder Zärtlichkeit fühlte für die kleinen, hilflosen Wesen, die sie auf einmal im Arm hielt, ohne auch nur zu ahnen, welche Revolution in der Geschichte der Menschheit sie in diesem Moment auslöste.

Denn auf den Hund, der nach vielen weiteren Generationen aus den zahmen Wölfen hervorging, folgten bald weitere Haustiere: Schaf, Ziege, Rind, Schwein. Zugleich kultivierte man erste Nutzpflanzen, baute feste Siedlungen mit Vorratslagern und Ställen.

Aus dem Jäger wurde der Hirte, aus dem Sammler der Bauer.
Damit nahm unsere Geschichte einen völlig neuen Verlauf. Die neue Technik der Naturnutzung führte zur Arbeitsteilung und ließ bald erste Hochkulturen entstehen; aber auch Klassengesellschaften, Naturzerstörung und Kriege.

Die moderne Geschichte des Menschen begann. Angefangen aber hat sie ganz unspektakulär und wohl eher zufällig als zukunftsorientiert damit, daß eine Frau, aus welchen Gründen auch immer, einige kleine, hilflose Jungen einer fremden Art an ihre Brust legte und sie von ihrer Milch trinken ließ.

Daß diese fremde Art ein Wolf war, ist kein Zufall.
Denn keine Tierart ist dem Menschen sozial so verwandt wie der Wolf. Beide, Mensch wie Wolf, leben ursprünglich von der Jagd auf große Beutetiere. In Anpassung an diese Ernährungsweise bilden sie Großfamilien. An der Spitze der Familie steht ein starkes Männchen, das Familienoberhaupt beim Menschen, der Alpharüde bei den Wölfen. Er führt die anderen auf die Jagd, und er ist es auch, der den meisten Nachwuchs zeugt.

Doch er ist nur vordergründig der Chef.
Die wirklich wichtigen Entscheidungen trifft beim Menschen wie beim Wolf die Frau, das ranghöchste Weibchen. Nach ihren Bedürfnissen richtet sich letztendlich alles, was von Belang für die Gruppe ist. Sie ist es, die ein oder mehrere Männchen gleichzeitig oder hintereinander - mit Hilfe ihrer Sexualität an sich bindet, damit diese für sie und ihre Kinder jagen und sie gegen alle Feinde schützen. Sie ist das wahre Zentrum der Gruppe.

In dieser Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Wolf, Frau und Wölfin liegt die Annäherung beider Arten, die erste Domestikation und der dadurch verursachte große Bruch in unserer Geschichte.

Wohl in Kenntnis dieser Verwandtschaft betrachten viele Naturvölker den Wolf als Ahnherrn oder Totem ihrer eigenen Herkunft. Am Anfang der Welt steht für mehrere Indianerstämme Nordamerikas der Wolf als Urvater/Mutter ihres Stammes.

Auch das Geschlecht des Dschingis Kahn, des großen Mongolenherrschers, geht nach der Überlieferung auf eine Wölfin zurück. Ja sogar die hochkultivierten Römer verdanken der Legende nach die Gründung ihrer Stadt der selbstlosen Aufopferung einer Wölfin.

Offensichtlich stehen sich Weiblichkeit als Urahn des Lebens und Wolf als Symbol der nicht immer zähmbaren Wildheit mythologisch sehr nahe. So auch im Mittelalter und Jahrhunderte danach in Europa.

Es war die Zeit, als der Wolf zur Plage wurde. Adelige Jäger hatten nahezu alles Wild erlegt.
So blieben den Wölfen nur noch Haustiere als Beute übrig. Der Kampf der Bauern gegen diese wahrhaft existentielle Bedrohung seitens einer unkontrollierbaren Natur ist lang und intensiv. Die Vorstellung vom Wolf als dem Bösen schlechthin stammt aus dieser Zeit.

Und ebenso die Vorstellung von der Frau als Hexe, als das von Natur aus vom Mann nur schwer zu kontrollierende Weib.

Unzählig und grausam sind die Opfer dieser männlichen Angst vor dem Unberechenbaren. Damals starben die Frauen, die sich nicht mehr fügen wollten, in den Flammen der Scheiterhaufen. Neben ihnen loderten allerdings auch unzählige Männer als vermeintliche Werwölfe; Männer, die sich ebenfalls der alten Ordnung nicht unterordnen konnten.

Groteske Zeiten, die sich aber immer wieder in neuer Form wiederholen. Letztendlich geht es wohl immer um zwei nahe verwandte Phänomene der menschlichen Existenz: um Angst und um Herrschaft. Angst beim Mann vor all dem, was sich nicht vollständig von ihm kontrollieren und bestimmen läßt.

Angst vor der noch nicht gezähmten Natur, vor der eigenständigen Frau zu Hause und dem wilden Wolf im Wald.

Angst der Frau vor dem dunklen Wald, vor dem schwarzen Mann, vor dem bösen Wolf. Angst, die in früheren Zeiten nicht ganz unbegründet war. Angst, die sich aber auch schüren läßt.

Denn Angst ist nützlich. Sie dient der Herrschaft. Die Herrschaft der Eltern über Kinder, die nicht gehorchen, die Herrschaft des Mannes über Frauen, die sich nicht fügen, die Herrschaft der Mächtigen über all die, die sich nicht unterordnen.

Im Märchen etwa wurde Rotkäppchen vom lüsternen Wolf verführt, aber vom Jäger gerettet. Sein sexueller Neid und seine Rache sind zugleich sein Vorteil. Denn ihre Angst, die Angst aller Frauen und Mädchen, dient ihm, dient dem Mann zur Rechtfertigung seiner Privilegien.

Wer vor dem Wolf im Wald Angst hat, wird den Jäger und sein Wirken darin, wird den Mann und seineMännlichkeit nicht in Frage stellen. So läßt sich Konkurrenz erledigen und Herrschaft begründen. Solchermaßen beidseitig gemachte Erfahrungen mit dem Mann verbinden. Vielleicht liegen auch darin die tieferen Gründe für die Affinität der Frau zum Wolf.

Beide, sie und der Wolf, sind vordergründig die Unterdrückten, die Verlierer der Geschichte. In Wirklichkeit aber sind sie die Starken. Denn sie können ihre Angst überwinden und dann wirklich frei und unabhängig sein.

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