Auf
der Suche nach einer uralten Beziehung
Von Dr. Erik Zimen
Vor
zwanzig Jahren im Bayerischen Wald: Neun meiner Wölfe sind aus ihrem Gehege
ausgebrochen.
Der
Landrat fordert Hilfe von der Grenzpolizei. Doch die Wölfe sind scheu und
die meisten bald über alle Berge. Es ist Februar, sibirisch kalt, und entsprechend
groß ist daher auch das Interesse der Presse.
Zuerst berichtet man wohlwollend: "Laßt die Wölfe leben!"
Doch dann taucht eine junge Wölfin, die einzige unter den Ausbrechern, die
nicht in den Wäldern verschwand, in der Nähe von Kindern im Dorf auf.
Sie will offensichtlich spielen und kneift dabei einen Jungen in den Po. Sofort
schlägt der Tenor um. Jetzt ist von "Bestien" und "Ungeheuern"
die Rede.
Zum Teil ist die Aufregung natürlich verständlich. Wer will schon einen
Wolf auf dem Spielplatz seiner Kinder haben? Auf jeden Fall sind es jetzt Männer,
die die Wölfe jagen, Jäger, die auf die Wölfe Tag und Nacht ansitzen,
Piloten, die in Hubschraubern das Gebiet überfliegen, Grenzpolizisten, die
in Formation die Wälder durchkämmen. Ein Jäger erlegt den zahmen
Wolf, die Polizisten zwei Hunde und ein Reh. Der Landrat fordert Verstärkung
von der Bundeswehr auf bayerischer und von Warschauer-Pakt-Truppen auf der böhmischen
Seite. Die Stimmung ist aggressiv aktionistisch.
Nur
einige Frauen scheinen noch Umsicht und Verstand zu behalten: "Nicht der
Wolf ist dem Menschen gefährlich, sonder der Mensch dem Wolf", schreibt
eine. Und daß die Angst vor wilden Wölfen unbegründet und damit
auch unüberwindbar sei. Manchmal klingt aber auch Verwunschenes an. Viele
rufen an. Eine Frau südlich von München: Ein Wolf soll vor ihrem Schlafzimmerfenster
heulen. Auf meine Frage, warum sie wisse, daß es ein Wolf sei, antwortet
sie: "Weil es sich so schön schaurig anhört."
Zehn
Jahre später: In Schweden sind Wölfe gesichtet worden, die ersten seit
langem. Die Nation jubelt. Nur die lokale Bevölkerung wehrt sich gegen die
unerwünschten Einwanderer aus dem weit entfernten Rußland. Wieder sind
es die Männer, die mit Gewehren bereitstehen, um ihre Elche, ihre Schafe
und auch ihre Kinder und Frauen zu schützen. Diese haben in der Tat ein wenig
Angst, vor allem die Mädchen und Frauen. Die Männer selber aber haben
keine, nur um ihre Kinder, um ihre Frauen.
Wieder
zehn Jahre später - heute: Auch in Deutschland werden Wölfen gesichtet.
Auf einer Fahrt erkunde ich die Stimmung im Lande. Es ist wie gehabt: Begeisterung
in den Städten, Angst und Ablehnung in den betroffenen Gebieten. Besonders
bei den Männern: "Weg damit", "erschießen", "kein
Platz bei uns" heißt es allgemein. Bei vielen Frauen hingegen, insbesondere
bei den jüngeren, schwingen andere, tiefere Töne mit. Ihnen geht es
auch um den Schutz des Schwächeren, um Natur, um ein wenig Unberechenbares
in unserem Leben, um das letzte noch Wilde in unserer Zeit. Die größte
Begeisterung drückt Julia, Doktorandin der Biologie, mitten in München
aus. Ein wunderschönes Tier sei der Wolf, edel, sozial und so scheu. Ihn
zu schützen solle Inhalt ihres Lebens werden. Rotkäppchen auf den Kopf
gestellt und sehr modern.
Drei Beispiele für einen geschlechtsspezifischen Unterschied in der Bewertung
einer allgemein verteufelten Tierart. Was beim Mann Haß und Verfolgung auslöst,
löst bei der Frau zwar auch Angst aus, fasziniert aber zugleich. Was mittels
Gewehr, Falle und Gift nach Meinung des Mannes ausgerottet gehört, weckt
Schutzinstinkte, Mitleid und allen voran tiefe Sehnsüchte nach verborgener
Wildheit bei der Frau.
Über
"die Kraft der weiblichen Urinstinkte" schreibt Clarissa Estés
ein ansonsten nicht gerade stimmiges Buch. Trotzdem wird es ein Bestseller.
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Der
Titel: "Die Wolfsfrau".
Was ist es, das bei uns das eine Geschlecht zum Wolfsjäger werden laßt,
das andere aber zu Rotkäppchen, Wolfsfrau oder Schwester Wolf? Was fasziniert
sie so abseits der ihr gebotenen Wege an ihm - dem wilden, dem Unberechenbaren?
Warum gibt sie sich gerade ihm, trotz all ihrer Angst, so leidenschaftlich hin?
Zumindest in den Märchen - und in ihren Träumen. Was haben Frau und
Wolf, Hexe und Hure, Räuber und Frevler gemein?
Die erste geschichtlich nachgewiesene Begegnung zwischen Wolf und Frau lag lange
Zeit in einem schier unentschlüsselbaren Wirrwarr von Linien verborgen. Auf
einer kleinen Schieferplatte aus einer Steinzeitsiedlung am Ufer des Rheins fand
man ein wildes Durcheinander von Einritzungen. Auf anderen sah man sofort den
Kopf eines Pferdes, die Umrisse eines Rentieres, Frauengestalten auch ohne Kopf
und Beine, aber mit viel Busen, Bauch und Po - wohl Fruchtbarkeitssymbole.
All diese Zeichnungen in weichen Schiefer geritzt, widerspiegeln das Leben und
das Wertgefüge der Menschen, die vor fünfzehntausend Jahren bei Gönnersdorf
am Ufer des großen Flusses ihre Zelte aufschlugen. Es waren Jäger und
Sammler. Haustiere gab es noch nicht und auch keine Kulturpflanzen, die man sähen
und später ernten konnte. Man war vielmehr allein auf das angewiesen, was
die Natur von sich aus an Überfluß produzierte.
Und das war nicht wenig, trotz Kälte und nahem Eis. Über die offene
Tundra zogen große Renherden. Pferde und Vögel, Robben und Fische waren
weitere reiche Nahrungsquellen. Beeren, Kräuter, Pilze ebenso. Im Permfrost
der Böden ließen sich Nahrungsreserven lange lagern. So hatten die
Menschen viel Zeit. Sie schmückten ihre Werkzeuge und ihre Waffen aus Stein,
Und sie malten die Wände ihrer Wohnhöhlen mit herrlichen Bildern aus.
In Gönnersdorf befestigten sie die Wege zwischen den Zelten und die Böden
in den Zelten mit Schieferplatten. Fast alle davon waren voll mit eben jenen eingeritzten
Zeichnungen, in denen man die Lebenswelt von damals so schön erkennen kann.
Nur einige Platten mit allzu verwirrenden Linien blieben lange Zeit ungedeutet.
Bis man Linie für Linie nachzeichnete. Auf einer Platte kam ein Wolf zum
Vorschein; ein weiteres Tier der damaligen Tundra.
Also nichts besonderes. Bis man weitere Linien nachzog und drei Frauengestalten
erkannte. Sie liegen quer über dem Wolf - oder er über ihnen. Wie man
will.
Man könnte diese Überlagerung von mehreren Bildern, von der realistischen
Abbildung eines Wolfes und von Symbolfiguren der Fruchtbarkeit als zufällig
abtun. Aber es gibt weitere Verknüpfungen von Frau und Wolf/Hund aus dem
gleichen Gebiet aus einer etwas späteren Zeit. Im 14000 Jahre alten Doppelgrab
von Oberkassel bei Bonn fand man Skelettreste von einem älteren Mann und
einer neben ihm begrabenen jüngeren Frau. Dem Mann waren Werkzeuge und Waffen
als Grabbeigabe mitgegeben. Neben der Frau aber lagen nur die Reste von einem
mittelgroßen Tier. Zuerst hat man das Tier als Wolf identifiziert, später
aber anhand der Zähne als Hund erkannt. Der bislang älteste Hund der
Geschichte und zugleich das erste Haustier des Menschen.
Über die Entstehung des Hundes ist viel gerätselt worden. Heute weiß
man, daß der Wolf und nur der Wolf Stammvater aller Hunde ist. Warum aber
wurde der Wolf überhaupt gezähmt? Wer machte aus dem Konkurrenten um
gleiche Beute den besten Freund des Menschen, den Hund?
Für meinen Lehrer Konrad Lorenz stand fest: Mensch und Wolf kamen als Jäger
zusammen, jagten immer mehr zum Vorteil beider, um schließlich auch gemeinsam
zu leben. Für andere Forscher gelten die ersten "Hauswölfe"
hingegen als Ersatznahrung für schlechte Zeiten. Andere wiederum glauben,
daß der Wolf in erster Linie zum Schutz des Menschen gezähmt wurde.
Alle diese Erklärungsversuche sind männerorientiert und deuten zudem
die ersten Manipulationen der Natur im Interesse des Menschen als bewußte
Tat einsichtiger und zukunftsorientierter Menschen. Nur vergessen sie, daß
ein Mann zur damaligen Zeit einen Wolf gar nicht zähmen konnte. Nur wenn
ein kleiner Welpe der Mutter weggenommen und vom Menschen aufgezogen wird, kann
ein Wolf zahm und auf den Menschen geprägt werden, wird er sein Leben lang
diesen seinen eigenen Artgenossen als Sozialpartner vorziehen. Wie es die Hunde
eben tun, ein Wildtier wie der Wolf aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.
Und dazu gehört insbesondere die frühe Wegnahme und die dann zwingend
notwendige Fütterung mit Milch.
Milch gab es ohne Haustiere nur bei der Frau. Sie muß es also gewesen sein,
die junge Welpen zu sich nahm und ihnen die Brust gab. Weil sie zuviel Milch hatte
vielleicht, weil sie Mitleid hatte oder Zärtlichkeit fühlte für
die kleinen, hilflosen Wesen, die sie auf einmal im Arm hielt, ohne auch nur zu
ahnen, welche Revolution in der Geschichte der Menschheit sie in diesem Moment
auslöste.
Denn auf den Hund, der nach vielen weiteren Generationen aus den zahmen Wölfen
hervorging, folgten bald weitere Haustiere: Schaf, Ziege, Rind, Schwein. Zugleich
kultivierte man erste Nutzpflanzen, baute feste Siedlungen mit Vorratslagern und
Ställen. Aus dem Jäger wurde der Hirte, aus dem Sammler der Bauer.
Und ebenso die Vorstellung von der Frau als Hexe, als das von Natur aus vom Mann
nur schwer zu kontrollierende Weib. Unzählig und grausam sind die Opfer dieser
männlichen Angst vor dem Unberechenbaren. Damals starben die Frauen, die
sich nicht mehr fügen wollten, in den Flammen der Scheiterhaufen. Neben ihnen
loderten allerdings auch unzählige Männer als vermeintliche Werwölfe;
Männer, die sich ebenfalls der alten Ordnung nicht unterordnen konnten.
Groteske Zeiten, die sich aber immer wieder in neuer Form wiederholen. Letztendlich
geht es wohl immer um zwei nahe verwandte Phänomene der menschlichen Existenz:
um Angst und um Herrschaft. Angst beim Mann vor all dem, was sich nicht vollständig
von ihm kontrollieren und bestimmen läßt. Angst vor der noch nicht
gezähmten Natur, vor der eigenständigen Frau zu Hause und dem wilden
Wolf im Wald. Angst der Frau vor dem dunklen Wald, vor dem schwarzen Mann, vor
dem bösen Wolf. Angst, die in früheren Zeiten nicht ganz unbegründet
war. Angst, die sich aber auch schüren läßt. Denn Angst ist nützlich.
Sie dient der Herrschaft. Die Herrschaft der Eltern über Kinder, die nicht
gehorchen, die Herrschaft des Mannes über Frauen, die sich nicht fügen,
die Herrschaft der Mächtigen über all die, die sich nicht unterordnen
Im Märchen etwa wurde Rotkäppchen vom lüsternen Wolf verführt,
aber vom Jäger gerettet. Sein sexueller Neid und seine Rache sind zugleich
sein Vorteil. Denn ihre Angst, die Angst aller Frauen und Mädchen, dient
ihm, dient dem Mann zur Rechtfertigung seiner Privilegien. Wer vor dem Wolf im
Wald Angst hat, wird den Jäger und sein Wirken darin, wird den Mann und seine
Männlichkeit nicht in Frage stellen. So läßt sich Konkurrenz erledigen
und Herrschaft begründen.
Solchermaßen beidseitig gemachte Erfahrungen mit dem Mann verbinden. Vielleicht
liegen auch darin die tieferen Gründe für die Affinität der Frau
zum Wolf.
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